„Wir sitzen in der Stasi-Falle“

■ Pfarrer Friedrich Schorlemmer über Stasi und Kirche in der ehemaligen DDR INTERVIEW

Schon lange vor der Wende gehörte Friedrich Schorlemmer, Lehrer am Prediger-Seminar in Wittenberg, zu den schärfsten Kritikern des SED- Regimes. Im Herbst 1989 war er Mitbegründer des Demokratischen Aufbruchs. Anfang 1990 trat er in die SPD ein.

taz: Herr Schorlemmer, die evangelische Kirche in der ehemaligen DDR war, als Dach der Opposition, herausragendes Operationsfeld der Staatssicherheit. Andererseits hat sie mit ihrer Konzeption „Kirche im Sozialismus“ einen Balanceakt versucht, der manchmal nur schwer von der Kooperation mit dem System zu unterscheiden war. Die Kirche hat es bisher weitgehend versäumt, diese Spannung zu thematisieren.

Friedrich Schorlemmer: Die Formel „Kirche im Sozialismus“ war durchaus widersprüchlich. Sie besagte, daß wir Kirche unter bestimmten gesellschaftlichen Bedingungen sind, die sich sozialistisch nennen. Wir wollten nicht Kirche neben der Gesellschaft sein, auch nicht gegen die Gesellschaft, sondern in ihr. Es wäre aber ein Mißverständnis, wenn man diese Formel als „Kirche des Sozialismus“ interpretieren würde. Wir brauchen uns von unserem Selbstverständnis nicht zu lösen, wenn wir berücksichtigen, daß Kirche und Sozialismus nie real existieren, sondern Zielbegriffe sind, die miteinander in Spannung und Kooperation stehen.

Was bedeutet das für die Aufarbeitung der Vergangenheit der Kirche im Sozialismus?

Vorab: Derzeit findet eine recht merkwürdige Verschiebung statt, wenn die Kirche jetzt in besonderer Weise aufgefordert wird, ihre Vergangenheit zu bewältigen. Die evangelische Kirche ist in diesen Jahren der einzige institutionelle Gesprächspartner des Staates gewesen, der sich für die Interessen der Bürger offensiv eingesetzt hat. Dabei ist sie natürlich immer auch Kompromisse eingegangen, die man heute kritisch beurteilen mag. Aber nur wer gehandelt hat, konnte auch schuldig werden, und es gibt heute viele, die geschwiegen haben und ihr Schweigen jetzt als Beweis ihrer weißen Weste nehmen. Ich finde das schäbig. Natürlich muß aufgearbeitet werden, was durch kirchliche Persönlichkeiten angerichtet wurde, die sich durch Wohlverhalten bestimmte Vorteile für ihre Institution erhofften. Generell muß die Kirche im Zusammenhang mit Stasi-Verstrickungen versuchen, Wahrheit und Versöhnung zusammenzubringen.

Aber gerade diese Spannung von Wahrheit und Versöhnung scheint doch von der Kirchenführung mehr und mehr in Richtung blinde Versöhnung aufgelöst zu werden. So hat Bischof Forck etwa vorgeschlagen, die Akten der Stasi ein für allemal zu schließen. Bischof Dehmke klagt über die vergiftende Wirkung der Medien im Zusammenhang mit den Stasi-Enthüllungen. Hat die Kirchenführung Angst, ihre eigene Verstrickung zu thematisieren?

Ich fände hier eine schärfere Gangart angemessener. Andererseits sitzen wir hier in der Stasi-Falle. Wir dürfen nicht dulden, daß die Stasi-Krake noch weiter über uns herrscht und daß die Stasi-Leute mit ihrem Wissen noch längere Zeit und nach ihrem Belieben die Puppen tanzen lassen können, wobei dann die oft mit schlimmem psychischem Druck Erpreßten, sich jetzt rechtfertigen müssen und nicht die Erpresser, die Schnüffler und Verleumder. Das hat eine so vergiftende Wirkung, daß ich — trotz starker innerer Widerstände — dahin neige, zu sagen: weg mit diesen Dossiers. Ich denke wir müssen einen Schlußstrich ziehen, sonst erringt die Stasi noch einen späten Sieg über uns. Die andere Stimme in mir sagt sofort: Nein, es muß Gerechtigkeit geschaffen werden. Aber ich sage Ihnen: Diese Gerechtigkeit stellen wir nicht mehr her, weil das Gemisch von Wahrheit und Verleumdung, das die Stasi produziert und hinterlassen hat, von uns letztlich nicht mehr zu klären ist.

Bedeutet das also, daß man gar nicht mehr versuchen soll, zwischen unvermeidlichen Kontakten im Zusammenhang mit humanitären Aktivitäten und illegitimen Verstrickungen, die es innerhalb der Kirche gegeben hat, zu differenzieren.

Ich weiß nicht, ob das im einzelnen möglich ist. Für mich liegt die Grenze da, wo Menschen Einschätzungen über andere weitergegeben haben und wissen konnten, daß sie ihnen damit schaden. Auch wo Leute auf eigene Faust solche Kontakte hatten, ohne das noch einem anderen mitzuteilen. Die Kirche hat immer sehr deutlich angemahnt, über Kontakte mit der Staatssicherheit zu informieren. Die waren manchmal im Interesse der Menschen unumgänglich. Beispielsweise hat Bischof Demke vor der Synode erklärt: Manchmal konnte man den betroffenen Menschen gegen die Stasi nur noch mit der Stasi helfen. Es ist heute vorstellbar, daß es irgendwann ein Gesprächspartner von Bischof Demke für opportun hält, ihn der Mitarbeit bei der Stasi zu verdächtigen. Und dann werden diese Stasi- Leute zu ehrenwerten Zeugen gegen die Opfer. Wenn ich befürchte, wir werden Gerechtigkeit nicht herstellen, und bei der Güterabwägung eher für Vernichtung der Akten plädiere, dann betrifft das nicht die hauptamtlichen Mitarbeiter der Staatssicherheit. Bei ihnen halte ich es im Interesse der jungen Demokratie für unablässig, daß sie keine Leitungsfunktion mehr einnehmen, in dem sie Macht über Menschen bekommen. Das läßt sich ja ganz einfach klären. Die Disketten sind in der Bundesrepublik.

Können Sie denn einschätzen, in welchem Ausmaß eine konspirative Zusammenarbeit zwischen Kirche und Staatssicherheit stattgefunden hat?

Generell ist das schwer einzuschätzen. Ich kann nur aus persönlicher Erfahrung sagen: In meinem Studienjahr haben 25 Studenten angefangen. Davon waren fünf bei der Stasi. Einer meiner nahen Freunde beispielsweise, mit dem ich mich sehr oft über Stasi-Aktivitäten gegen mich unterhalten habe, der war dann selbst Mitarbeiter. Das waren entweder schon gekaufte Leute, die zum Theologiestudium abgeordnet wurden, oder man hat gezielt Schwachstellen ausgenutzt und Erpressungsmöglichkeiten bei Menschen gesucht. Ich rechne damit, daß bei einem Prozentsatz von Stasi-Mitarbeitern pro Studienjahr von 25 Prozent, es wahrscheinlich ist, daß die Stasi in jedem Pfarrkonvent ihre Leute sitzen hatte. Ich sage ganz offen, ich möchte mir gar nicht überlegen, wer das alles gewesen sein könnte. Doch wir sind immer nach dem Prinzip verfahren, daß Vertrauen vor Kontrolle geht, und das möchte ich jetzt im Blick auf meine Kollegen in der Kirche auch weiter gelten lassen. Lieber falle ich zehnmal rein, als daß ich einen zu Unrecht verdächtige.

Bedeutet das in der Konsequenz, daß die Kirche die Auseinandersetzung mit Stasi-Verstrickungen in den eigenen Reihen nicht führen wird?

Ich bin schon der Ansicht, daß die Kirche diese Auseinandersetzung führt, nur eben nicht mit dem Ziel der systematischen Enttarnung mittels Stasi-Akten. Die Kirche darf natürlich nicht zu einer Institution werden, die irgendetwas vertuscht, schon gar nicht eigene Verstrickungen. Aber sie darf auch nicht zu einer umgekehrten Stasi werden. Auch das Aufdecken muß immer unter der Priorität stehen, daß Menschen ein neues Leben beginnen können. Die Wahrheit muß raus, aber zugleich muß jedem die Möglichkeit gegeben werden, neu anzufangen. Wir müssen hier Anwalt der Menschlichkeit sein. Beim Versuch, Gerechtigkeit herzustellen, dürfen wir uns weder anmaßen, „Gott zu sein“ noch eine staatsanwaltschaftliche Institution. Das heißt, wir müssen uns so verhalten, daß jeder einzelne die innere Freiheit gewinnt, die Wahrheit zu sagen. Alles andere würde nur die Beteiligung an einem weit verbreiteten Rachebedürfnis bedeuten. Interview: Matthias Geis