Wer das friedliche Khalistan sucht, muß die Grenze der Schizophrenie passieren

■ Zwischen dem Terror der Sikh-Separatisten im Pandschab und der Polizeigewalt von Indiens Zentralregierung werden die Verfechter eines dritten Weges...

Chandigarh stellt ein konstitutionelles Kuriosum dar. Es ist Hauptstadt zweier Bundesstaaten — Pandschab und Haryana —, liegt jedoch weder auf dem Territorium des einen noch des anderen, sondern wird als „Union Territory“ direkt von Delhi aus verwaltet. Dies hat der Stadt geholfen, ihren Sonderstatus auch optisch wirken zu lassen, denn ohne die großzügigen Subventionen der Regierung hätte sich der Traum ihres Erbauers Le Corbusier wohl längst der indischen Wirklichkeit gebeugt. So aber kann ein Besucher, der die geometrisch gezogenen Avenuen entlangfährt und jene — aus der Ferne noch intakten — Betonbauten des Neuenburger Architekten bewundert, sich für Augenblicke der Illusion hingeben, auf einem kalifornischen Campus zu sein.

Spätestens am Abend allerdings, wenn die Straßen von Dunkel und Stille verschluckt scheinen und selbst die Ladenreihen in der besten Geschäftszeit ihre Rolläden herunterlassen, wird einem bewußt, daß auch Chandigarh von der Realität eingeholt ist. Was zunächst wie die Flucht vor der winterlichen Kälte aussieht — denn Chandigarh liegt am Fuß der ersten Vorhimalaya-Hügel — stellt sich bald als kollektive Angst heraus, eine Befindlichkeit, die heute einem großen Teil der Bevölkerung Pandschabs zur Gewohnheit geworden ist.

Bisher war die Hauptstadt von Terrorakten verschont geblieben. Der tägliche Blutzoll, etwa 15 Todesopfer im Durchschnitt, den die Bewegung für ein unabhängiges Khalistan seit nahezu zehn Jahre fordert, ist mehrheitlich in den westlichen Distrikten entrichtet worden, wo sich die Terroristen der polizeilichen Verfolgung durch Überqueren der Grenze nach Pakistan rasch entziehen können. Auch im Osten der Provinz kam es immer wieder zu Attentaten, doch mit Ausnahme eines Anschlags im Busbahnhof war Chandigarh bisher ausgespart worden.

Seit einigen Monaten nun zeichnet sich aber eine neue Strategie der Untergrundbewegung ab. In ihr spielt die Hauptstadt eine Schlüsselrolle. Nach Jahren reiner Gewaltausbrüche scheinen sich die militanten Gruppen auch politisch stärker in Szene setzen zu wollen. Quasi als vorbereitende Sprachregelung erließ die wichtigste Gruppierung, das „Panthic Committee“ von Sohan Singh, am 22. November vergangenen Jahres einen „Code of Conduct“ für die Medien: Der Name „Terrorist“ sei durch „Freiheitskämpfer“ oder „Militanter“ zu ersetzen. Über „Khalistan“ — das von Indien unabhängige Pandschab — seien nur positive Berichte zu schreiben, Kritik werde nicht geduldet. Radio und Fernsehen hätten die Ausstrahlung von Nachrichten in Hindi sofort einzustellen und durch Pandschabi zu ersetzen. Das Panthic Committee drohte bei Zuwiderhandlungen mit „Todesurteilen“. „Schuldige können gegen das Urteil beim ,Panthic Committee‘ Einspruch erheben“, stand in einem in allen Zeitungen Pandschabs abgedruckten Text zu lesen. Ob auch R.K. Talib, der Direktor des staatlichen Radios in Chandigarh dies getan hatte, war allerdings nicht mehr zu überprüfen: Zwei Wochen nach der Panthic-Erklärung wurde er im Garten seines Hauses von zwei Unbekannten erschossen. Das danach veröffentlichte Kommuniqué des Panthic Committee bemerkte lakonisch, daß gegen Talib nichts „Persönliches“ vorgelegen habe. Seine Erschießung sei „symbolisch“ gewesen, nämlich um dem „Code of Conduct“ Nachdruck zu verschaffen.

Nachdem so das publizistische Terrain vorbereitet war, folgten weitere Orders des Panthic Committee: die Regierung in Chandigarh sollte statt Hindi nur noch Pandschabi als Verwaltungssprache benützen, Frauen sich fortan nur noch im traditionellen „Salwar Kameez“ kleiden. Die Punjub University, eine auf ihre säkulare und akademische Tradition stolze Institution, wurde aufgefordert, einen Sikh als Rektor zu wählen. Gleichzeitig wurde sie informiert, daß in zwei Wochen mit dem Bau eines Sikh-Tempels auf dem Gelände der Universität begonnen würde. Wegen dem Mord an Radiodirektor Talib — und dem Angriff auf einige Studentinnen in Jeans — wurden diese Erpressungen ernst genommen und befolgt. Nach zehn Jahren Gewaltanwendung und Einschüchterung erbrachten die Sikh- Extremisten somit den Beweis, daß sie nicht nur die Dörfer, sondern auch die Medien, Schulen und die staatliche Verwaltung ihrem Diktat unterwerfen können.

Ohne Duldung der Bauern geht nichts

Mag der Erfolg in Chandigarh das Resultat direkter Gewaltanwendung sein, so ist er auf dem Land jedoch nicht allein die Folge durchgeladener Kalaschnikows. Anders wäre es nämlich nur schwer verständlich, daß sich die Separatisten in einem für den Untergrundkampf derart schlecht geeigneten Terrain so lange hätten halten können. Der Pandschab als Schwemmgebiet von drei der fünf Flüsse, welche den westlichen Himalaya entwässern, ist topfeben und von einem Kanalnetz durchzogen. Jeder Quadratmeter wird hier wirtschaftlich genutzt. Nur im Nordwesten gibt es noch weite Sumpfgebiete, in denen Terroristen sich verstecken können. Sonst aber geben ihnen lediglich die Zuckerrohrplantagen bis zur Ernte einen befristeten Schutz — und die Dörfer. Manmohan Singh, ein Bauer, der im kleinen Fleckchen Ramgarh südlich von Ludhiana lebt, berichtet, warum die Landbevölkerung den Extremisten die nötige Deckung verschafft. Obwohl er sie fürchte, sagt er, unterstützt er die Sikh-Kämpfer, weil sie „für unsere wirtschaftlichen Rechte kämpfen und unsere Religion verteidigen. Die Hindus in Delhi beleidigen unseren Glauben — und zugleich profitieren sie vom Reichtum unseres Landes.“ Es ist diese verknüpfte Wahrnehmung von politischem, wirtschaftlichem und religiösem Unrecht — gekoppelt mit dem Fehlen einer Problemlösungsstrategie der Regierung —, die dafür verantwortlich ist, daß die Brutalität der Terrorgruppen bei den Betroffenen bisher nicht in offene Abwehr umgeschlagen ist.

Beim Schüren politischer Ressentiments spielt auch die Stadt Chandigarh eine Rolle. Die historische Metropole des Pandschab, Lahore, war bei der Unabhängigkeit und territorialen Trennung Indiens an Pakistan gefallen, zusammen mit dem fruchtbaren Westen der Provinz. Die meisten dort ansässigen Sikhs, ohnehin traditionelle Feinde der Muslime, opferten ihr Land und zogen in die unterentwickelte Ostregion, eingedenk des Versprechens der indischen Kongreßpartei, daß sie im neuen Pandschab ihre kulturelle Eigenart besser einbringen könnten. Als Ersatz für Lahore wurde eine neue Hauptstadt geplant. In der architektonischen Kühnheit Chandigarh sollte sich der Pioniergeist der Sikhs wie auch die von Nehru angestrebte Modernität Indiens Ausdruck verschaffen. Doch schon bald zeigten sich zwischen den Aspirationen der Sikhs und jenen des Landes erste Risse. Als es 1966 zu einer nach linguistischen Kriterien demarkierten Aufteilung des Staates kam, bezeichneten die im südlichen Pandschab lebenden Hindus — angeblich aufgrund der von Delhi manipulierten Fragestellung — Hindi als ihr Mutteridiom und nicht Pandschabi. Damit hatte die Regierung in Delhi einen Vorwand, den Pandschab noch einmal zu zerkleinern. Sie schuf aus den Hügeldistrikten den Staat Himachal Pradesh und aus der Region um Delhi den Gliedstaat Haryana. Chandigarh wurde durch einen Korridor an Haryana angegliedert und diente fortan als Hauptstadt Haryanas und des Pandschab: Die erste Chance, die Sikhs in einem Mischstaat mit pandschabischen Hindus in die ethnische Pluralität Indiens zu integrieren, war vertan.

Zentralregierung schöpft Pandschabs Reichtum ab

Die politische Trennung machte auch ökonomische Eingriffe nötig. Die Himalaya-Wasser, im Bakra- Damm aufgestaut, wurden von Delhi aus verteilt und verwaltet. Während die Abgabe an Pakistan bereits bei der Unabhängigkeit geregelt worden war, mußten für Haryana und Rajasthan bestimmte Wassermengen erst garantiert werden. Das Bauernvolk der Sikhs tolerierte diese Einmischung so lange, wie für alle genügend Wasser vorhanden war. Mit der grünen Revolution verwandelte sich das früher halbaride Land in die Korn- und Reiskammer Indiens. Dabei stieg allerdings auch der Wasserbedarf und zwang die Bauern, vermehrt Grundwasser anzuzapfen. Der für die Pumpen benötigte Strom wurde zwar ebenfalls in Bakra erzeugt, aber er war knapp und teuer, da gleichtig andere Staaten um die Energie konkurrierten. Während die Pandschabis für ihren Strom hohe Tarife bezahlen mußten, wurde ihnen das Getreide zur Ernährung des hungernden Indien zu Minimalpreisen abgenommen. Die einsetzende Prosperität Pandschabs ging demzufolge nicht mit einer entsprechend wachsenden Investitionstätigkeit einher, da der produzierte Mehrwert von Delhi abgeschöpft und anderen Bundesstaaten zugeführt wurde. Fehlende Kapitalbildung und Bodenknappheit führten in den 70er Jahren zu steigender Arbeitslosigkeit, die von den traditionellen Überschußventilen — Armeedienst und Auswanderung — nicht mehr voll absorbiert werden konnte. Die wirtschaftliche und politische Unzufriedenheit führte zu sozialen Unruhen, insbesondere bei den Bauernsöhnen mit Schulbildung. Es fehlte nur noch eine ideologische Komponente, um „kritische“ Bewegung ins Leben zu rufen.

Die fand sich in der Religion des Sikhismus. Aus einer lokalen hinduistischen Reformbewegung entstanden, synkretistisch und ohne eigenständige religiöse Doktrin war sie immer in Gefahr, vom Hinduismus aufgesogen zu werden. Die Betonung von religiösen und ehtnischen Symbolen — Tempel und Heilige Schrift, persönliche Kennzeichen wie Turban, langes Haar, Tragen des Schwertes — sind wichtige Ausdrucksformen der Sikh-Mentalität. Es war daher wenig verwunderlich, daß die Akali-Dal-Partei, der auch die Kontrolle über die Sikh-Tempel obliegt, die politische und wirtschaftliche Dominanz der Hindu-Regierung in Delhi als Gefährdung des Sikhismus betrachtete.

Indira Gandhi unterschätzte zweifellos diese Verbindung zwischen Religion und Politik und nutzte die Zerstrittenheit unter Akali-Politikern, um die Macht ihrer Kongreßpartei im Staat zu konsolidieren. Ende der 70er Jahre begann sie den fundamentalistischen Sikh-Prediger Jarnail Bhindranwale zu fördern, um ihn auf die korrupten Politiker des Akali Dal anzusetzen. Sie ahnte damals nicht, daß sie sich damit einen Gegner heranzog, dessen Todesverachtung sie zu spüren bekam, als sie gegen seine Terrormethoden einschritt. Sie schuf damit die Grundlagen für den offenen Ausbruch des Konfliktes. Durch die Eroberung des „Goldenen Tempels“, in dem sich Bhindranwale verschanzt hielt, schuf sie ungewollt dessen Nachfolgern eine mächtige religiöse Popularitätsbasis: Die Panzer, die den „Akal Takht“, das religiöse Zentrum des Sikhismus, zerbombten, taten dies am Todestag des fünften Sikh- Propheten (Guru Ariun Singh, der sich zum Schutz der Hindus den muslimischen Mogulen geopfert hatte). Vier Monate später folgte die Ermordung Inidra Gandhis durch die Hand ihrer Sikh-Leibwächter. Ausschreitungen in ganz Nordindien waren die Folge, bei denen über 3.000 Sikhs starben.

Das Jahr 1984 schuf den emotionalen Boden, auf dem sich der Terrorismus entfalten konnte. Die Verletzung der religiösen Gefühle durch die Entweihung des heiligsten Sikh- Schreins, die Schaffung von Märtyrern und die Angst aller Sikhs vor der Hindu-Mehrheit, gaben den wirtschaftlichen und politischen Ressentiments ihre gewalttätige Virulenz. Sechs Jahre später verdeutlicht die spielend leichte Durchsetzung von Zensur, Erpressung und sozialen Kontrollen durch gezielte Exekutionen in der Hauptstadt Chandigarh, daß die Extremisten immer noch von diesen Ressentiments zehren.

Terrorgruppen üben Sog auf Kriminelle aus

Die „All India Sikh Students Federation“ (AISSF) ist eine der vielen Organisationen, die sich unter dem Einfluß des Terroristen und Predigers Bhindranwale radikalisiert hatte und heute zum Teil im Untergrund tätig ist, zum Teil als politische Organisationen die Verbindung der „kämpfenden Verbände“ mit den traditionellen Akali-Fraktionen aufrecht erhält. Die Zwitterstellung des AISSF wird deutlich, wenn man die komplizierten Umwege geht und Kontrollen passiert, um den Generalsekretär einer „legalen“ Gruppe, Bhupinder Singh Longia, zu treffen. Longia ist ein alter Mitkämpfer Bhindranwales und verbrachte sechs Jahre im Hochsicherheitsgefängnis von Jodhpur. Zusammen mit anderen Gefährten wurde er am 18. Dezember 1989 amnestiert, ohne daß die 23 Anklagepunkte gegen ihn je gerichtlich verhandelt wurden.

Die sechs Jahre Gefängnis scheint Longia allerdings nicht dazu genutzt zu haben, um sich über die Gestaltung des künftigen Khalistan Gedanken zu machen: Nur vage kann er dessen territoriale Konturen skizzieren; das angestrebte politische System ähnelt bestenfalls einem korporatistischen Staat, in dem die Sikhs das Sagen haben werden, während Hindus und Muslime Bürger zweiter Klasse sind. Ökonomisch lebensfähig sei der Zukunftsstaat durch seinen landwirtschaftlichen Reichtum. Und er werde in der Lage sein, so Longias Vision, sich militärisch zu verteidigen, ohne jedoch Indien oder Pakistan zu bedrohen.

Ähnlich undifferenziert und „unpolitisch“ sind bisher auch die militanten Untergrundorganisationen in Erscheinung getreten. Ihre „Politik“ war der Mythos der AK-47 und der Terror, den sie damit beinahe ziellos — dafür um so unberechenbarer — verbreiten. Dies führte allerdings auch zu einer Zersplitterung in zahlreiche Gruppen und Grüppchen, von einzelnen Anführern um sich geschart, die oft nur durch die Loyalität gegenüber ihren jeweiligen „starken Männern“ zusammengehalten wurden. Die insgesamt auf 2.500 Mann geschätzten Kämpfer zogen auch Kriminelle an, die sich in Führungs- und Rachefehden zum Teil untereinander eliminierten.

Todesverachtung und Märtyrerkult

Die geheime Hoffnung der Zentralregierung, daß sich die Khalistan- Bewegung gänzlich kriminalisieren und in der Bevölkerung diskreditieren würde, erfüllte sich jedoch nicht. Die Regierenden in Delhi übersahen die mit Furcht gemischte Bewunderung, welche große Teile der ländlichen Sikh den jungen Leuten entgegenbrachten, die den Mut hatten, die mächtige indische Regierung herauszufordern. Deren Todesverachtung erinnerte sie an den Märtyrermythos in der Geschichte der Sikhs. Die seit einigen Monaten sichtbare Taktik, den Terror gezielt auf bestimmte Personengruppen oder an die Erfüllung politischer Forderungen zu binden, zeigt, daß die wichtigsten Gruppen nicht nur organisatorisch intakt sind, sondern auch ihre Zielsetzungen nicht vergessen haben. Dies gilt vor allem für die beiden „Panthic Committees“, die jeweils fünf beziehungsweise vier Gruppen umfassen. Deren Aktionen werden von einem Führungsstab koordiniert, der nach Ansicht indischer Spezialisten in Pakistan sitzt. Die wachsende Zahl unschuldiger Gewaltopfer könnte jedoch die auf eine Mischung aus Angst und Respekt bauende passive Kooperation der ländlichen Bevölkerung erlahmen lassen. Waren es 1986 noch knapp 500 tote Zivilisten, so erreichte ihre Zahl vergangenes Jahr ungefähr 2.000. Noch höher ist allerdings die Anzahl der getöteten Terroristen gestiegen: von 78 im Jahr 1986 auf derzeit über 1.200. Gleichzeitig machte die Polizei wenige Gefangene. Vor vier Jahren waren es noch 4.000, jetzt ist es nicht einmal mehr die Hälfte. Dies hat zu Rekrutierungsschwierigkeiten geführt, was in den Anwerbungsbedingungen der verschiedenen Gruppen zum Ausdruck kommt: In einigen Dörfern im Distrikt Taran soll jungen Leuten bis zu 5.000 Rupien Monatslohn geboten werden — das Salär eines Bankmanagers.

Die neue Strategie der „Panthic Committees“, vor allem von dem um Dr. Sohan Singh — ehemaliger Direktor im staatlichen Gesundheitsdienst und Anführer der „Babbar Khalsa“ —, könnte es sein, die religiös definierte ethnische Identität der Sikhs zum Mittelpunkt ihrer Anstrengungen zu machen. Die Kleidervorschriften für Frauen und der Aufruf an die Männer, ihre Bärte offen zu tragen, statt sie ums Kinn zu kleben, sind dabei nur von minderer Bedeutung. Weit verhängnisvoller ist jedoch der seit einigen Monaten sichtbare Trend, Hindus zur Zielscheibe von Massenexekutionen zu machen: waren es im September noch 36, stieg ihre Zahl im folgenden Monat auf 62 und im November auf 160 Opfer. Meist handelte es sich um arme Buspassagiere, die während der Fahrt identifiziert und nach einem erzwungenen Halt erschossen wurden; oder es waren Angehörige bestimmter Zielgruppen — hinduistische Jugendorganisationen, deren Mitglieder bei der Morgengymnastik niedergemäht werden, oder Verkäufer von Zeitungen der Hind- Samachar-Gruppe in Jallander, die in den letzten Jahren über 50 ihrer Angestellten verloren hat, weil sie eine konsequente Anti-Khalistan- Politik vertreten hat. Die ersten Folgen dieser Strategie zeichnen sich bereits ab: In den Grenzbezirken zu Pakistan kommt es seit zwei Monaten zu Migrationen ganzer Dörfergemeinden in die relative Sicherheit der Städte. Kaufmannsfamilien aus den Städten emigrieren nach Haryana und Delhi.

Die Anti-Hindu-Strategie steht in klarem Widerspruch zur Lehre der „Guru Grant Sahib“, des heiligen Buches der Sikhs. Dessen Ziel ist es, die Einheit aller Religionen — besonders von Hinduismus und Islam — herauszustellen. Aber die Khalistan- Bewegung hat schon immer mehr die kämpferischen Aspekte des Sikhismus betont. Mit den Morden an Hindus versucht sie auf den hinduistischen Herrschaftsanspruch zu reagieren, der sich gegenwärtig im Norden Indiens breit macht und der auch für viele Sikhs in der Diaspora des Gangesbeckens als eine Gefährdung ihrer Identität empfunden wird.

Polizeikonzept der Regierung

Entscheidend für den Erfolg der Anti-Hindu-Strategie, die den Terror ideologisch neu zu motivieren sucht, um ein vollständiges Abgleiten in die Kriminalität zu verhindern, wird ohne Zweifel die Reaktion der indischen Regierung sein. Trotz der bitteren Erfahrung von Indira Gandhis Scheitern lernte auch ihr Sohn wenig dazu. Er hatte zwar nach den traumatischen Ereignissen von 1984 mit dem Akali-Dal-Führer Sant Longowal in einem Vertrag konzediert, daß Chandigarh an den Pandschab übergehen und die Frage der Zuteilung von Bakra-Wasser neu geregelt wird. Durch den Bau eines Kanals sollte Haryana mit Wasser aus dem Yamuna entschädigt werden. Bereits ein Jahr später wurde das Gandhi- Longowal-Abkommen auf indische Art zu Grabe getragen — durch Einsetzung einer Kommission, deren Schlußfolgerungen sich offiziell als „nicht durchführbar“ erwiesen.

In Haryana fanden Landtagswahlen statt, und für Gandhi war das Wählerreservoir des „Hindi-Gürtels“ wichtiger als ein paar Millionen prosperierende Pandschab-Bauern. Chandigarh blieb „Union Territory“, und bei der Zuteilung des Wassers wurde nur das Yamuna-Kanal-Projekt vorangetrieben — eben jener Teil des Vertrags, der allein Haryana Nutzen brachte. Die Terroristen hatten leichtes Spiel, jeden Kontakt mit dem „Hindu-Regime“ in Delhi als Verrat am Sikhismus abzutun. Longowahl, ein allseits verehrter Prediger, wurde ermordet, die Akali-Dal-Regierung von Barnala mußte auf Druck der Extremisten die Regierungsbank räumen, und Delhi sah sich berechtigt, wieder den Ausnahmezustand auszurufen und das Feld der Polizei zu überlassen. Deren „Politik“ bestand, nach den Worten des Pandschab-Polizeichefs Ribeiro darin, „die Terroristen zu eliminieren, um mit dem Terrorismus fertigzuwerden“. Daß dies nicht gelang, zeigt die offizielle Statistik der als „hardcore“ eingestuften Terroristen: Ribeiro sprach 1986 noch von 40, heute wird ihre Zahl auf 229 beziffert. Die Behandlung der Krise als polizeiliches statt als politischen Problem führte zu einer Demoralisierung und Kriminalisierung der Polizei. Die ließ sich von den Extremisten ihr Vorgehen aufzwingen und half Feme-Organisationen aufzubauen, deren Methoden denen ihrer Gegner gleichstanden.

Rajiv Gandhis Nachfolger V.P. Singh hatte zwar kurz nach seiner Amtsübernahme einen „Sühnegang“ nach Amritsar gemacht. Er versprach die Aufhebung des Ausnahmezustands und die Durchführung von Wahlen. Drei Monate später jedoch hatte ihn die Realität seines Minderheitskabinetts bereits eingeholt: Auf Druck seines informellen Koalitionspartners, der BJP, aber auch seines Parteifreundes, des Haryana-Patriarchen Devi Lal, verlängerte er die „President's Rule“ zum siebten Mal, und sechs Monate später sogar ein achtes Mal. Auch Chandra Shekhar, der noch stärker auf Unterstützung von außen angewiesen ist und, mit der Möglichkeit baldiger Neuwahlen vor Augen, sich nicht gern von seiner hinduistischen Wählerbasis im Gangesbecken trennen dürfte, wird nur wenig Spielraum für eine Lösung des zehnjährigen Konfliktes eingeräumt. Bleibt nur die Akali-Dal-Partei übrig, die sich bisher immer an einer Entscheidung für oder gegen Khalistan vorbeimanövrieren konnte, nun aber zunehmend unter den doppelten Druck einer intransigenten Regierung und einer rigiden Untergrundbewegung kommt.

Akali Dal zwischen Hammer und Amboß

Im Dilemma zwischen einer unversöhnlichen Khalistan-Bewegung und einer Zentralregierung ohne Konzept wird Politik für die traditionelle Akali-Dal-Partei zu einem mörderischen Spießrutenlaufen. Die ständige Bedrohung ihrer physischen Existenz hat die zerstrittenen Fraktionsführer der Partei zwar nähergebracht, die meisten überschlagen sich aber so sehr in Solidaritätsschwüren an die Adresse der „Freiheitskämpfer“ und in taktischen Finten, daß sie Mühe haben, der politischen Unglaubwürdigkeit zu entgehen. G.S. Tohra ein gerissener alter Akali-Führer, wurde vor drei Monaten in einem Hinterhalt der „Khalistan Liberation Force“ (KLF) schwer verletzt, seine beiden Leibwächter erschossen. Vor zwei Wochen trat er erstmals wieder öffentlich auf — ausgerechnet bei einer Trauerfeier für einen erschossenen „Area Commander“ der KLF. P.S. Badal, wie Tohra ein Politiker, der durch ständiges Lavieren sein Leben gerettet — dafür aber seinen Ruf eingebüßt — hat, organisierte am 24. November seine eigene Verhaftung durch die Regierung. Er wollte nicht an einer durch radikale Sikhs und ihn selbst einberufenen Veranstaltung teilnehmen, da er dabei für oder gegen Khalistan hätte Stellung beziehen müssen — also die Wahl zwischen physischer Eliminierung oder politischem Selbstmord. Er zog es vor, sich unter Schmährufen auf die Regierung, von eben deren Polizei in die Sicherheit eines Gefängnisses bringen zu lassen.

Realitätsflucht als Alternative

Von allen Akali-Politikern genießt Simranjeet Singh Mann die größte Popularität. Aber auch diese droht sich in der Mühle zwischen Terroristen und Staat schnell zu zerreiben. Der ehemalige Polizeioffizier war von der letzten Kongreßregierung ohne formelle Anklage fünf Jahre lang in Haft gehalten und dabei auch gefoltert worden. Im November 1989 bestritt er die Parlamentswahlen aus einem Gefängnis im fernen Bihar und gewann für sich und seine neugegründete Akali-Fraktion neun der dreizehn Parlamentssitze des Pandschab. Er wurde dadurch zu einem Hoffnungsschimmer für die Bevölkerung des Staates, da er seine radikalen Forderungen innerhalb der indischen Verfassung durchsetzen wollte.

Nachdem ihn Rajiv Gandhi aus der Haft entließ, wurde sein Spielraum jedoch schnell eingeengt: V.P. Singh desavouierte ihn in seiner Forderung nach Aufhebung des Ausnahmezustandes, und auch die Terroristen gaben ihm kurz darauf die Marschrichtung bekannt: Talwandi, einer seiner engsten Anhänger, der sein neugewonnenes Parlamentsmandat ausüben wollte, um sich in Delhi für die Rechte des Pandschab einzusetzen, wurde alsbald in der Nähe seines Dorfes als Leiche aus einem Kanal gezogen. Im Lauf eines knappen Jahres ist aus dem Volkshelden Mann eine beinahe schizophrene Persönlichkeit geworden, die jeden Mord und jede Erpressung der Terroristen trotz besseren Wissens der Polizei in die Schuhe schiebt. Politisch ist seine Basis so eng geworden, daß er sich in bizarre Forderungen nach „Selbstbestimmung“ gemäß der UNO-Menschenrechtserklärung flüchtet, um nicht für oder gegen Khalistan Stellung beziehen zu müssen. Als Begründung für seine Weigerung, beim Betreten des Parlamentes sein Schwert abzugeben — was ihm schließlich den Parlamentssitz gekostet hat — bemüht er die Schweizer Landsgemeinde, wo das „Volksparlament“ auch einen Säbel tragen dürfe... Für viele Beobachter sind dies Anzeichen eines zunehmenden Realitätsverlustes von Mann.

Die „Pakistan Connection“

Was Mann zumindest vorläufig noch vor Verhaftung oder Ermordung schützt, ist seine Popularität, da er der einzige ist, der eine — wenn auch absurde — Alternative zu bieten scheint. Sein Schwager Amarinder Singh hat diese, im Interesse einer klaren Position, längst verloren. Der ehemalige Maharadscha von Patiala, dem größten Fürstentum im einstigen britischen Pandschab, ist beinahe die einzige Persönlichkeit, welche die Terroristen bei ihrem Namen nennt. Dies hat dem Akali-Politiker und Exlandwirtschaftsminister nicht nur die öffentliche Distanzierung durch seine Badal-Fraktion eingetragen, sondern auch die Ehre, ganz oben auf der Abschußliste der Khalistanis zu stehen. Das ficht den Großbauern und Palastbewohner Singh allerdings nicht an, und auf entsprechende Fragen nach seiner Befindlichkeit antwortet er mit dem englischen Sprichwort, wonach Feiglinge tausend Tode sterben, ein mutiger Mann jedoch nur einen. Im Gegensatz zu Mann hält er sofortige Provinzwahlen für sinnlos — „dann können wir ebensogut (den Terroristenführer) Sohan Singh aus Lahore herbeirufen und ihn zum Chefminister ernennen.“

Amarinder Singh spricht auch aus, was heute jeder für selbstverständlich hält: die Unterstützung der Khalistanis durch Pakistan. Ihm zufolge hat Indiens Nachbarland die Demütigung von 1971, als es Bangladesh verlor, noch nicht verwunden. Seine Rache: die Sezession von Kaschmir, sei es als unabhängiger Staat oder als Teil Pakistans. Die Destabilisierung Pandschabs ist ein wichtiges Mittel hierfür, da der Pandschab nicht nur die Heimat der besten Soldaten der indischen Armee, der Sikhs, ist, sondern auch wegen seiner strategischen Lage. Die Nähe zu den politischen Zentren beider Länder sowie die militärisch günstige Topographie haben den Pandschab bereits in zwei Kriegen zum Hauptschauplatz gemacht. Vor allem ist es aber der einzige Zugang nach Kaschmir. Amarinder Singh, ein ehemaliger Offizier des hochdekorierten „Sikh Regiment“, behauptet zu wissen, daß Pakistan den Plan hat, nach der Schneeschmelze im nächsten Frühjahr eine Masseninfiltration von Guerillas nach Kaschmir zu einzuleiten.

Der Erfolg einer solchen Aktion hängt aber entscheidend von der Fähigkeit ab, die Zufahrtswege nach Kaschmir ernsthaft zu stören, und dies kann dadurch geschehen, daß der Pandschab in einen Zustand des Aufruhrs versetzt wird. Ob Amarinder Singh Recht behält oder seine Ansichten zum Teil schon das Produkt einer Belagerungsmentalität sind, welche die meisten Pandschab-Politiker heute erfaßt, könnte sich schon im Frühjahr erweisen.