Der permanente Rufmord

■ Chronologie eines Dauerbrenners: der zehnjährige Kampf um die Hafenstraße

Seit fast einem Jahrzehnt ist die Hafenstraße Dauerthema in der Hansestadt Hamburg. Im Herbst 1981 zogen Punks und Autonome nach und nach in die heruntergekommenen Häuser im elbnahen Stadtteil St. Pauli. Die Besetzungen wurden von der Eigentümerin, der städtischen Wohnungsbaugesellschaft SAGA, monatelang ignoriert und erst der Baubehörde gemeldet, als Transparente mit der Aufschrift „Diese Häuser sind besetzt“ aus den Fenstern am Hafenrand hingen.

Erst ein Jahr nach den ersten Besetzungen versprach der damalige Bausenator die Instandsetzung der vom Abriß bedrohten Gebäude — mit Ausnahme von drei Häusern. Ein Jahr später, am 30. November 1983, wurden aus den BesetzerInnen „ordentliche“ MieterInnen. Für 27 Wohnungen in acht Häusern in der Hafenstraße und der Bernhard-Nocht-Straße wurden Mietverträge abgeschlossen. Vor Abschluß dieser Verträge war es bereits zu Straßenschlachten zwischen BesetzerInnen und Polizei gekommen.

Die Eskalation folgte aber erst 1984/85, nachdem Hamburgs Verfassungsschutzchef Christian Lochte erstmals behauptet hatte, in den Hafenstraßenhäusern lebten auch SympathisantInnen der Rote Armee Fraktion (RAF). Spätestens von diesem Zeitpunkt an gehörte die Behauptung, die Hafenstraßenhäuser seien eine „Keimzelle der Gewalt“, zum Standardrepertoire der hanseatischen CDU und der Springer-Zeitungen. Zuständige Behörden entwickelten nach dem Motto „Tabula rasa“ Räumungsszenarien.

Im Oktober 1986 räumten vier Hundertschaften Polizei sechs Wohnungen. Zwei Monate später, kurz vor dem Auslaufen der Mietverträge, drohten in Hamburg gewalttätige Auseinandersetzungen. 10.000 Freunde der Hafenstraße demonstrierten für den Erhalt des „autonomen Wohnprojekts“. Bei Auseinandersetzungen mit einem Großaufgebot an Polizeikräften kam es auf beiden Seiten zu zahlreichen Verletzungen.

Eine Vermittlergruppe um den linken Millionär und Mäzen Jan-Philip Reemtsma, die sich für eine „konsequente Entstaatlichung“ des Problems aussprach, bot an, die Häuser zu kaufen. Dieses Vorhaben scheiterte. Die besetzten Gebäude wurden inzwischen von ihren BewohnerInnen zu Festungen ausgebaut.

Der Erste Bürgermeister Klaus von Dohnanyi stellte ein Ultimatum: die Befestigungen müßten bis zum 19. November entfernt sein, sonst sei die Räumung unausweichlich. Der Regierungschef versprach für eine friedliche Lösung neue Mietverträge und verpfändete sein „politisches Wort“. Die Barrikaden wurden rechtzeitig beseitigt, Dohnanyi unterzeichnete den Pachtvertrag zwischen der Stadt und den BewohnerInnen und trat einige Monate später zurück — offiziell nicht wegen der Hafenstraße. Neuer Bürgermeister wurde Henning Voscherau, ein erklärter Gegner der Vertragslösung. Als dann die Polizei mit Stahlkugeln und Steinen beworfen wurde, forcierte er seine Lösung des Problems: die Räumung.

Die Springer-Presse stellte bei vielen im Rotlicht-Distrikt St. Pauli vorgefallenen Straftaten eine direkte Verbindung zu den Bewohnern der Hafenstraße her. Die Reaktion in der Öffentlichkeit und auch im Rathaus war entsprechend. Verfassungsschutzchef Lochte ging zuletzt im Mai 1990 mit der Behauptung an die Öffentlichkeit, unter den Bewohnern der Hafenstraße befänden sich Unterstützer der RAF. Eine Hausdurchsuchung förderte Material zutage, das Lochte und die Sicherheitsbehörden als Beleg für ihre Vermutung angaben. Die Betroffenen dementierten den hergestellten Zusammenhang. Gestern endlich wirkte der permanente Rufmord. Jürgen Oetting