Jedes Wort ein schwerer Brocken

■ Uraufführung von „Lila“, dem ersten Stück von Kerstin Specht

Männer pinkeln überallhin. Erst schütten sie literweise Bier in sich hinein, bis sie schwanken wie ein deutscher Baum im Sturm, und dann ist kein Halten mehr: Ob mitten in der Nacht in Mutters Wäscheschrank oder am hellichten Tag, vorzugsweise in Horden, irgendwo im Freien. Was raus muß, muß raus, und riesige Rinnsale fließen über die Bühne im Nürnberger Schauspielhaus. Männerbilder aus Frauenaugen: Kerstin Spechts erstes Stück, Lila, 1988 entstanden und im letzten Jahr noch einmal überarbeitet, kommt jetzt als dritte Uraufführung der Saison auf die Bühne — und macht die junge fränkische Autorin endgültig zum Shooting Star des Theaterjahres. Zu Recht? Eng ist die Welt der Kerstin Specht, eng der Horizont ihrer Figuren, die alle in der fränkischen Provinz angesiedelt sind. Männer schießen auf Scheiben, Männer tragen Uniform, Männer verachten Frauen. Und Frauen sind, ganz einfach, fremd in dieser Welt: stumm wie Lila, die Schöne von den Philippinen, die kein Wort sagt im ganzen Stück, immer nur zusieht, ein unbewegtes Requisit. Oder schwerhörig wie Hanna, die Tochter der Familie Kratzke, die ein bißchen doof ist und von der Disco träumt. Oder Frauen sind wie Mutter Kratzke, die sich einschließt in Kälte und Haß, in Putzwahn und Anpassungsdruck. Famillje auf fränkisch im Eigenheim, für dessen drückende Enge Johannes Leiacker ein einleuchtendes Bild gefunden hat: Tonnenschwer hängt da ein Betondach über den Spielenden, sonst nichts. Der Raum ist offen, leer — hinten eine Allee aus vertrockneten, verkrüppelten Bäumen, ein Küchentisch, ein Ehebett. Mit Lila bricht das Fremde ein in diese enge Welt: Siechfried, der Sohn des Hauses, hat sie von einer Reise mitgebracht und will sie heiraten — gegen alle Widerstände, gegen Klatsch und Tratsch im Dorf und im Gasthaus. Und das Verhängnis nimmt seinen Lauf: Siechfried und Lila ziehen in die Stadt, weil sie Mutter Kratzkes Nörgeln nicht mehr ertragen. Vater Kratzke versinkt in Schwermut, Mutter Kratzke zündet das Eigenheim an, Tochter Kratzke kommt darin um — sie hatte ihr Hörgerät nicht eingeschaltet. Daheim sterben die Leut', ach ja. Das schwankt zwar manchmal ein bißchen wüst zwischen Sozialkolportage und Welttheater, zwischen Provinzrealismus und Komödienstadl, aber es ist alles drin, was aufrechten Menschen Sorge macht: wie das Land zerrieben und zerstört wird von Supermärkten und Erweiterungsbauten, wie die Leute sich prostituieren für Fremdenzimmer und Erlebnisgastronomie, wie sie leer und hohl und charakterlos werden. Leider ist das alles so fürchterlich vorhersehbar — wie jedes Wort, das auf der Bühne fällt. Jede Figur kaut immer genau die Sätze vor, die man von genau dieser Figur zu genau diesem Zeitpunkt erwartet hätte — das Sprechen ist in Hans-Jörg Utzeraths Inszenierung ein der allgegenwärtigen Dummheit abgerungener Akt: jedes Wort ein schwerer Brocken, der langsam zwischen den Zähnen hervorquillt. Pause, langes Nachdenken. Kein fränkischer Dialekt, sondern eine hochstilisierte Kunstsprache. Immerhin: Behaglichkeit kann so nicht aufkommen, aber auch die erforderliche Betroffenheit will sich nicht einstellen. Selbst im zweiten Akt nicht, als Vater Kratzke zur shakespeare-beckett-fassbinderhaften Christusfigur mutiert und nackt und schlammig über den mit schwarzen Steinchen bedeckten Bühnenboden irrlichtert — der fränkische Lear, der nach dem Feuertod der Tochter ruhelos im Heustadel vegetiert und gerne blind sein möchte. Die Worte, die er taumelnd von sich gibt, zeugen zwar von Belesenheit und Geschmack der Autorin, aber nirgendwo von authentischem Schmerz.

Kerstin Specht steckt voller schrecklicher Geschichten — von plattgefahrenen Hühnern und abgetrennten Fingern und von der großen Einsamkeit der Kreatur im Welttheater. Die weiß sie virtuos und fein zu arrangieren, und was dabei herauskommt, ist nichts als ein literarischer Schrecken, ein Gruseln aus zweiter Hand. Weltschmerz aus Autorenmund — das ist ein bißchen wenig.

Kai Voigtländer

Kerstin Specht: Lila . Regie: Hans- Jörg Utzerath. Bühne: Johannes Leiacker. Mit Wolfgang Kraßnitzer, Rita Russek, Trixy Mahalia- Zänger. Schauspielhaus Nürnberg. Nächste Aufführungen: 9., 10., 13., 18. und 30.1.91