RAF-AussteigerInnen ab heute vor Gericht

In München beginnt die Prozeßserie gegen Honis Helden/ Nahaufnahme oder „Softporno“ (Helmut Pohl) über die Rote Armee Fraktion/ Bundesanwaltschaft beantragt Kronzeugenregelung/ Alte Indizienurteile könnten kippen  ■ Von Gerd Rosenkranz

Berlin (taz) — Wenn von heute an die in der ehemaligen DDR festgenommenen früheren Aktivisten der Rote Armee Fraktion einer nach dem anderen vor verschiedenen bundesdeutschen Gerichten erscheinen, herrscht über einen Punkt schon im Vorfeld allseitiges Einvernehmen: Nichts soll erinnern an die Schaustücke der vergangenen fast zwanzig Jahre, in denen die erbitterte Konfrontation zwischen RAF und Staat jeweils auf der juristischen Bühne im Stammheimer Prozeßbunker und anderswo ihre bruchlose Fortsetzung fand. Die Verteidiger werden nicht die Taten verteidigen, die sämtlich zehn oder mehr Jahre zurückliegen, sondern die Täter. Die Ankläger und Richter fühlen sich erkennbar nicht geleitet von jenem unbedingten Verurteilungswillen, mit dem sie ansonsten diesem „Tätertyp“ entgegenzutreten pflegen.

Erstmals wird ein wenn auch begrenzter Ausschnitt aus der Geschichte der RAF im Detail offengelegt werden. Die Inhaftierten Susanne Albrecht, Henning Beer, Werner Lotze, Monika Helbing, Silke Maier-Witt und teilweise auch Sigrid Sternebeck und Ralf Friedrich haben über die Zeit ihrer Mitgliedschaft in der westdeutschen Guerilla umfassend und über ihre eigene Beteiligung an den damaligen Aktionen hinaus ausgesagt.

Die Chance auf „historische Wahrheit“, die mit der Aussagebereitschaft der RAF-Aussteiger aus der DDR gegeben ist, litt jedoch von Anfang an unter der unseligen Verknüpfung mit dem in der alten Bundesrepublik heftig umstrittenen Kronzeugengesetz. Die Regelung verspricht jenen Straffreiheit (bei Mord eine Reduzierung der lebenslangen Freiheitsstrafe auf drei Jahre), die über ihre eigenen Taten hinaus zur Aufklärung oder Verhinderung weiterer Straftaten beitragen. „Verräter“ gehören — Erfahrungen mit ähnlichen Regelungen in Italien belegen das — nicht zu den glaubwürdigsten Zeugen.

Weder Politiker noch Staatsschutzbehörden waren nach den Festnahmen im vergangenen Frühsommer bereit, den seit zehn Jahren erfolgreich „resozialisierten“ RAF- Aussteigern einen Weg in die Freiheit ohne die Kronzeugenregelung zu offerieren. Die Alternative für einige der aussagebereiten RAF-Aussteiger lag rasch nur noch zwischen lebenslanger oder doch zumindest langjähriger Haft und Nutzung der eigentlich für noch aktive oder gerade ausgestiegene RAF-Aktivisten gedachten Kronzeugenregelung. In ihrer Not versuchten die Gefangenen schon bald nach der Festnahme, über ihre Anwälte zu Absprachen zu kommen, an deren Ende so etwas wie eine „einvernehmlich gegenseitige Belastung“ stehen sollte. Der Versuch mißlang, vor allem, weil die zuerst inhaftierte Susanne Albrecht in die Absprache nicht mehr eingebunden werden konnte. Sie wollte unter allen Umständen alles erzählen.

Die Bundesanwaltschaft hat inzwischen für ein halbes Dutzend der Gefangenen die Anwendung der Kronzeugenregelung beantragt. Die „Verlierer“ der Aktion stehen bereits fest: Der zunächst nur kurzfristig in der DDR festgenommene Ralf Friedrich wurde aufgrund der Aussagen erneut inhaftiert. Einige seit vielen Jahren in bundesdeutschen Knästen einsitzende ehemalige RAF-Mitglieder sehen sich mit zusätzlichen schweren Vorwürfen konfrontiert. So Christian Klar, der Ende Juli 1977 nach der Aussage von Susanne Albrecht zuerst auf den Bankier Jürgen Ponto geschossen haben soll, und Sieglinde Hofmann, die eine fünfzehnjährige Haftstrafe absitzt und beispielsweise an dem Anschlag auf den US-Oberbefehlshaber in Westeuropa, Alexander Haig, beteiligt gewesen sein soll. Und vor allem Peter-Jürgen Boock, der vor der Begnadigung durch Bundespräsident Richard von Weizsäcker stand. Boock trennte sich ebenfalls vor zehn Jahren von der RAF, wurde aber dennoch zu einer lebenslangen Haftstrafe verurteilt. Nach den Aussagen von Susanne Albrecht und Henning Beer wird ihm nun zusätzlich vorgeworfen, im Fall Ponto das Fluchtfahrzeug gesteuert zu haben und an einem Bankraub in Zürich beteiligt gewesen zu sein, bei dem 1979 eine unbeteiligte Passantin erschossen wurde. Die Bundesanwaltschaft hat inzwischen einen neuen Haftbefehl erlassen. Es wird erwartet, daß die staatlichen Ankläger erneut Mordanklage gegen den Gefangenen erheben werden, der bisher keinen seiner früheren Genossen belastet hat.

Die nach wie vor überzeugten Anhänger der RAF innerhalb und außerhalb der Knäste halten sich mit öffentlichen Stellungnahmen zur Aussagebereitschaft ihrer früheren Kampfgefährten bisher auffällig zurück. Sie müssen befürchten, daß insbesondere die Aussagen über die Strukturen der Gruppe, über verdeckte und offene Hierarchien, über den wenig heroischen Alltag der Guerilla und nicht zuletzt über die interne Einschätzung des Todes von Gudrun Ensslin, Andreas Baader und Jan-Carl Raspe im Hochsicherheitstrakt von Stammheim zur weiteren Entmythologisierung der RAF in der Öffentlichkeit führen werden. Lediglich Helmut Pohl, einer der Köpfe der inhaftierten RAF-Aktivisten, hat die in der DDR festgenommenen Aussteiger im August 1990 unter Hinweis auf Presseveröffentlichungen als „Softpornodarsteller“ bezeichnet und ihre vormalige Mitgliedschaft in der RAF als eine Art Betriebsunfall klassifiziert.

Aber auch die Staatsschutzbehörden sehen den bevorstehenden Prozessen mit gemischten Gefühlen entgegen. Einerseits scheinen sie entschlossen, die Verfahren für ein Signal zu nutzen: „Seht her, wie pfleglich wir mit schwersten Straftätern umgehen, wenn sie nur vernünftig werden.“ Andererseits müssen Bundesanwaltschaft, Bundeskriminalamt und die Staatsschutzsenate der Gerichte fürchten, daß mit den Aussagen manches ihrer vollmundig gefällten Indizienurteile der achtziger Jahre ins Wanken gerät.

Bisher ist bekannt, daß der Ponto- Mord ebenso falsch rekonstruiert wurde wie eine Schießerei in einem Waldstück bei Dortmund, an der Werner Lotze beteiligt war und für die die im vergangenen Jahr begnadigte Angelika Speitel zwölf Jahre absaß. Man hat sich damals auch auf der Staatsschutzseite kaum vorstellen können, daß Aufklärung einmal so einfach sein würde. Mit oftmals vagen Indizien wurden Tatbeiträge einzelnen RAF-Mitgliedern zugeordnet. War dies gar nicht möglich, half das Konstrukt der „kollektiven Willensbildung“ im Kollektiv RAF, wonach jedes Gruppenmitglied unabhängig vom eigenen Tatbeitrag für alle Anschläge gleichermaßen verantwortlich zu machen war. Generalbundesanwalt Alexander von Stahl hat diese Vorstellung im vergangenen November noch einmal ausdrücklich bestätigt. Tatsächlich gibt es unterschiedliche Aussagen: Werner Lotze bestätigt die „Kollektivthese“ im Zusammenhang mit dem Anschlag auf Alexander Haig nachdrücklich, Sigrid Sternebeck bestreitet sie zumindest für die Entführung und Ermordung des Arbeitgeberpräsidenten Hanns-Martin Schleyer und seiner Begleiter im Herbst 1977.

Der Generalbundesanwalt hat im Zusammenhang mit der Aussagebereitschaft und der „rechtsstaatlichen“ Behandlung der RAF-Aussteiger aus der DDR die Hoffnung einer „Schwächung des organisatorischen Zusammenhalts“ verknüpft. Diese Erwartung scheint verfrüht. Denn während in München heute vermutlich ein weitgehend „normaler“ Prozeß beginnt, läuft 200 Kilometer norwestlich, im Prozeß gegen Luitgard Hornstein in Stuttgart- Stammheim, alles weiter wie seit bald zwanzig Jahren — nach Schema RAF.