Der Streit um „Seilschaften“ an der Uni

Alle Kontrahenten innerhalb und außerhalb der ostdeutschen Hochschulen reden von „Seilschaften“/ Keiner weiß, was gemeint ist/ Leipziger Studenten finden kaum Bündnispartner/ Minimale Mitbestimmung an den neuen Fachbereichen  ■ Von Susanne Güsten

Leipzig (afp) — Der Begriff der „alten Seilschaften“ hat eine praktische Eigenschaft, die ihn zum Modewort gemacht hat: Mit einem Schlagwort können politische Auseinandersetzungen auf ein Minimum reduziert werden. Zum Beispiel im Streit um die „Abwicklung“ der Universitäten in den neuen Bundesländern: „Interessenvertretung für alte Seilschaften“ wirft die sächsische Landesregierung den protestierenden Studenten der Karl-Marx-Universität (KMU) Leipzig vor. „Die Abwicklungspolitik der Regierung protegiert alte und neue Seilschaften“, geben diese die Gegenparole aus. Der ganze Konflikt werde „von alten Seilschaften geschürt“, meint KMU- Rektor Gerald Leutert. Und wieder einmal ist vor lauter alten Seilschaften der Berg nicht mehr zu sehen.

„Es hatte sich in den letzten Monaten gezeigt, daß die Erneuerung der Universität zu langsam geht“, erklärt Rektor Leutert den Beschluß der Landesregierung von Mitte Dezember, die als „ideologisch belasteten“ Sektionen der Hochschule gemäß dem Einigungsvertrag abzuwickeln — „das ist gleichbedeutend mit Auflösung“. Betroffen sind davon vor allem die Geisteswissenschaften: Die Sektionen für Geschichte, Philosophie, Journalistik, Jura und Wirtschaftswissenschaften werden seit dem 1. Januar abgewickelt, die Lehrkräfte sind in die Warteschleife entlassen.

Seit diesem Beschluß vor drei Wochen bahnt Leutert sich den Weg in sein Amtszimmer täglich zwischen Matratzen, Schlafsäcken und Ghettoblastern hindurch: Das Rektorat ist besetzt. Leutert kann sich das Engagement der Studenten nicht ganz erklären. „Kein einziger Studienplatz ist bedroht“, versichert er. Die Universitätsleitung habe bei der Regierung durchgesetzt, daß alle abgewickelten Sektionen als demokratische Fachbereiche neu gegründet werden. In den Semesterferien sollen die neuen Fachbereiche von Gründungskommissionen strukturiert und die Dozenten von Überprüfungskommissionen gesiebt und ausgewählt, zum Teil auch aus dem Westen rekrutiert werden.

„Wir haben es satt, in die SED- Ecke gestellt und nicht ernst genommen zu werden“, ruft Studentenvertreter Steffen Przybill ins Mikrophon, und die dreitausend im Innenhof der KMU versammelten Studenten klatschen und trommeln Beifall. Zu der Abschlußkundgebung des Protestmarsches von vierzig Berliner Studenten sind außer Leipziger Kommilitonen auch Delegationen von Universitäten aller fünf neuen Bundesländer erschienen. Der Abwicklungsbeschluß ignoriere den von innen begonnenen Erneuerungsprozeß der Hochschulen, argumentieren sie und fordern vor allem die Beteiligung und Mitbestimmung bei der Umstrukturierung ihrer Universitäten.

„Demokratie, Pluralität und Autonomie der Hochschulen“, formuliert Przybill das Anliegen der Studenten. Gegen die pauschale Entlassung der Lehrkräfte wehren sie sich nicht aus Solidarität mit belasteten Dozenten, betont die Leipziger Aktivistin Anja-Christin Remmert, Journalistikstudentin im dritten Semester. Hochschullehrer mit finsterer Vergangenheit müßten gehen, das sei klar. Aber das Verfahren der pauschalen Entlassung sei zu undifferenziert: Die besten und engagiertesten Lehrkräfte würden ebenso in den Wartestand geschickt wie die Parteikarrieristen. Die Studenten verlören dadurch die guten Dozenten, die in der Warteschleife andere Angebote annehmen, während Amtsmißbrauch und politische Repression anderer Lehrer ungesühnt blieben.

Mißtrauisch macht es die Studenten, daß ihre Universitäten von den Landesregierungen, also „von oben“, umgestaltet werden sollen. Bemerkenswert findet der Kundgebungsredner und Wirtschaftsstudent Andreas Peter auch die Tatsache, daß die westliche Hochschullandschaft nach jahrelangen Strukturdebatten „jetzt plötzlich als das beste System links und rechts vom Nil gehandelt“ und den östlichen Ländern als Modell vorgehalten wird. Das finden auch Delegationen aus Frankfurt/Main, Gießen und West-Berlin, die angereist sind, um ihre Solidarität zu bekunden: „Gemeinsam für Mitbestimmung und gegen den schleichenden Abbau der Geisteswissenschaften!“

Eines haben die Aktivisten der Leipziger KMU schon erreicht: An den Gründungskommissionen der neuen Fachbereiche werden sie mit drei Vertretern neben sechs Professoren und drei Assistenten beteiligt.