Vier gegen achtzigtausend

■ »Streng vertraulich oder Die innere Verfassung« - ein Stasi-Dokumentarfilm von Ralf Marschalleck in der »Filmbühne am Steinplatz« und im »Toni« am Antonplatz

Wenn es sie nicht gegeben hätte, müßte man sie erfinden. Keine Woche vergeht, ohne daß nicht 'Spiegel' oder 'Stern‘ dem braven deutschen Leser eine neue Ungeheuerlichkeit aus dem Innenleben des »Kraken Stasi« präsentierten und mittels faksimilierter Aktenfragmente ostdeutsche Wende- oder Oppositionshälse politisch guillotinierten. Wer kann es den Schreibern auch verübeln, sorgen sie doch nur dafür, daß auf absehbare Zeit kein Stammeln, Spucken, Stottern und kein Bart aus der zweiten Reihe irgendeiner bundesweit agierenden Großpartei das in vierzig Jahren bundesrepublikanischen Parlamentarismus eingeübte Spiel seiner moderaten Beliebigkeit berauben. Soweit der Westen, der natürlich jeden Ostler, der die Stories mit der nötigen Opferaura umkränzt, dankbar in die Spalten weinen läßt.

Nun ist der Regisseur Ralf Marschalleck zwar nicht Rainer Kunze und sein Stasi-Dokumentarfilm auch kein Betroffenenrapport, doch Stasi ist Stasi. Und wer sich, wo überall finstere Seilschaften lauern, todesmutig diesem Thema stellt, verdient Nachsicht und Erwähnung im deutschen Feuilleton. Der Regisseur scheint als Mitglied des Bürgerkomitees Normannenstraße hinreichend legitimiert. Also rezensiert 'FAZ‘- Wirsing, von Marschalleks 90-Minuten-Werk ergriffen, ganz expressionistisch: »Es ist Wahnsinn.«

Wahnsinn ist es schon, wenn man über anderthalb Stunden von einer konzeptionslosen Regie im Paternoster auf eine Reise durch die großen und kleinen innenarchitektonischen Geschmacklosigkeiten der Stasi- Zentrale in der Normannenstraße geschickt wird und sich dabei mit verquarzten Prosabrocken überschütten lassen muß.

Der Streifen beginnt mit dem Sturm der Mitläufer auf die Höhle des Löwen. Was nach deren Abzug bleibt, zeigt die Kamera: nur Opfer, ein »Ich will meine Akte« an die Wand geschrieben, Scherben am Boden und vier Menschen in Raum 515 — das Bürgerkomitee, zwei Studenten und ein Ingenieur sowie ein Rangiermeister. Und die dürfen, Marschalleck sei Dank, bis an die Schmerzgrenze sinnieren — über die Stasi, sich selbst, den Herbst 1989 und die Welt. Die vier, deren selbstgestellte Aufgabe, so suggeriert es der Film, in der Auflösung des 85.000 MitarbeiterInnen zählenden Apparates des Ministeriums für Staatssicherheit bestand, wirken in ihrer Naivität und Unbedarftheit wie die Angehörigen einer Selbsthilfegruppe: Man sei sich »menschlich nähergekommen« und kann nun »differenzieren«.

Auch der Film will differenzieren und trennt das Haupt vom Rumpf. Auf der einen Seite Erich Mielke, das Monster, der Jäger, dessen Reden nicht den Berliner und Bergmann leugnen, den Proleten, den die Macht zum Kleinbürger korrumpierte. Auf der anderen Seite die Männer im Hintergrund, redlich bemüht, die Ungerechtigkeit zu besiegen. Der tapfere Abteilungsleiter, der Informationen über den Häuserbau von Funktionären sammelte, die keiner sehen wollte, und der den Fernseher abstellte, wenn die Erfolgsmeldungen von der Wirtschaftsfront verlesen wurden. Die Helden aus der zweiten Reihe heiligen posthum die Mittel. Die Regie widerspricht nicht. Sie wollten das Beste, nur Mielke nicht.

Auch Marschalleck will nur das Beste. In einem Gespräch verkündet der Regisseur: »Ich will mit dem Film meine Betroffenheit über das Vergangene weitergeben und dazu beitragen, den Verdrängungsprozeß für einen Moment aufzuhalten.« Er kann es nicht. Die Stasi ist kein Objekt für poetische Reflexionen, und jede Verkunstung verwässert das Grauen. Doch darin scheint Marschalleck geübt. Der Regisseur, der hier mit der Kamera das zusammengebrochene System sezieren will, drehte selbst bis 1987 beim Armeefilmstudio der NVA Propagandafilme und ließ die Panzer im Klassenauftrag dem Sonnenuntergang entgegenrollen. a.m.

Streng vertaulich oder Die innere Verfassung von Ralf Marschalleck in der Filmbühne am Steinplatz und im Filmtheater Toni am Antonplatz.