Nach dem Stück wird nicht geraucht

■ Das Obdachlosentheater »Grassmarket Project« mit »Glad to be alive« in der Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz

Mit Plastiktüte, Parka und vom Wind gerötetem Gesicht wartet Richard auf seinen Kumpel im Foyer der Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz. Ursprünglich kommt er aus Weißensee. Seit September ist er obdachlos. Am Bahnhof Zoo hatte er von »Glad«, dem Theaterstück von Obdachlosen über ihr Leben im Asyl, erfahren. Das »Grassmarket Project«, beim Edinburgher Theaterfestival preisgekörnt, gastiert fünf Tage lang in der Volksbühne.

Von Detlef Kuhlbrodt

Die Schotten hatten in den einschlägigen Institutionen Freikarten verteilt. Richard war schon am Samstag bei den Proben gewesen und hatte sich den englischen Text des Stücks übersetzen lassen. Wie es ihm gefallen habe? Zwischen enttäuschten Sätzen übers Leben (»macht keinen Spaß mehr«) erzählt er die Szenen nach, in denen der »Neue« im Asyl von seinen Genossen fertiggemacht wird. Das sei doch gemein gewesen. Am Donnerstag, so meinte er, würden die meisten seiner Kollegen kommen, und morgen, so ergänzt einer, der sich urberlinernd dazugesellt, würde man um zehn Kaffee bekommen und danach selber spielen. Das »Grassmarket Project« bietet einen Workshop an. Vor und nach der Vorstellung fragen ihn noch etliche andere kamerabewehrte Reporterteams aus.

Die Geschichte von Glad begann vor etwas weniger als einem Jahr am »Grassmarket«, dem problematischsten Viertel von Edinburgh. Hier leben die Penner und Alkoholiker, die Obdachlosen, die frei sind von Heimat, Geld, Arbeit, Sicherheit. Regisseur Jeremy Weller inszenierte mit einigen von ihnen ein Stück über ihr Schicksal. Er wollte ihnen die Möglichkeit geben, sich selbst darzustellen; indem er sie ihre eigene Geschichte spielen ließ, wollte er ausprobieren, welche Möglichkeiten das Theater noch hat, in die Gesellschaft hineinzuwirken. Offiziellen Stellen erschien dieser Versuch als unmöglich oder lächerlich; Obdachlose, die mitmachen sollten oder wollten, hielten Weller zunächst für einen blöden Yuppie. Das Stück, in dem unterstützend auch drei echte Schauspieler mitwirken, hat Erfolg. Inzwischen halten ihn die Obdachlosen für einen netten Yuppie.

Im hinteren Bühnenbereich sind Zuschauerbänke aufgestellt, das »Grassmarket Project« spielt hinter dem Vorhang, um die nötige Intimität gewährleisten zu können. 200 dichtgedrängte Zuschauer haben hier Platz. Jeweils fünf sperrige alte Krankenhausbetten stehen in zwei Reihen auf der Bühne. Neben den Betten stehen Bierdosen. Nichts geschieht zunächst, außer daß der Fernseher unaufhörlich läuft. Mit dünner Stimme singt ein alter, kleiner, kräftiger Mann mit Ballonmütze (Francis Worsley) »Brother, can you spare me a dime« (»haste mal 'ne Mark, Bruder«); ein bebrillter, weiser, zerfurcht im Mantel Gebückter hält einen Monolog übers Leben im Asyl, der von denen wütend unterbrochen wird, die sich auf den Betten räkeln, sitzen, Bier trinken, rauchen und nichts von Humanistischem wissen wollen, die den anderen ihr Leben erklären. Denn wer Auskunft über das Leben der Besitzlosen gibt, steht eigentlich schon auf der anderen Seite.

Ein Neuer kommt. Er wird von den Zimmerbewohnern ausgeschlossen, nachdem man bei ihm kein Geld gefunden hat; er wird geplündert, geprügelt, sein Bett wird kaputt gemacht; als Angeklagter einer Spielszene im Stück wird er für schuldig befunden, ein Schaf entführt zu haben. Der »Schafficker« wird mit Honig beschmiert und gefedert.

Das dargestellte Asyl ist eine Männergesellschaft mit Frau, die anfangs noch unter dem Bett versteckt wird. Die Hierarchien und Rollen im Asyl sind typisiert; die Darsteller, die zum Teil jahrelang obdachlos waren, spielen sich selbst, sind gewalttätig-cholerisch (»Calm down!« ist einer der häufigsten Sätze des Stücks), schüchtern, Looser, Boß, Philosoph oder Cowboy, wie der kleine alte John »Cowboy« Hodge, der nach dem Stück nach einem Berliner Laden fragte, wo es Cowboyklamotten gäbe; sie sind alt oder jung oder, ganz am Ende der Hierarchie, Frau.

Das Licht im Saal geht aus und an. In der Nacht schlafwandeln manche oder werfen mit Pflastersteinen. In der Abfolge ereignisloser Tage führt der Sozialarbeiter Gespräche, schlichtet bei Schlägereien, verwaltet die Insassen. Ein Regisseur auf der Suche nach neuen Stoffen will mit den Insassen ein Stück inszenieren und erscheint tagtäglich zu Interviews. Die Obdachlosen sollten sich doch nicht einbilden, die einzigen zu sein, die Probleme hätten, meint er; er müsse noch seine Hypotheken abbezahlen, und er hätte zum Beispiel auch einmal seinen Zug verpaßt und im Wartesaal übernachten müssen.

Wer ins Asyl kommt, wie die Fotografin, die auf der Suche nach Bildern für eine Rührstory über Obdachlose ist, einen der Penner bittet, sich auf den Boden zu legen, und ihm für bessere Effekte Ketchup ins Gesicht schmiert, soll gefälligst zahlen oder wird verjagt. Wer vertrauliche Gespräche im Heim mitschneidet, hat in erster Linie Interesse an seiner Story und nicht an den Erfahrungen, die die meisten der Besitzenden zerstört hätten. Die Fotografin und der junge Regisseur, der die Penner authentische Kunst-Stücke spielen lassen will, nehmen die wirkliche Situation in der Volksbühne vorweg: Zwei Kamerateams sind im Saal; etliche Fotografen und Schreiber suchen nach wirklichen Pennern für Kurzinterviews, und der Regisseur, Jeremy Weller, hat das Stück, an dessen Ende das Asylmobiliar zerschlagen wird, ja wirklich inszeniert.

Der langanhaltende Beifall des Publikums war nicht nur Belohnung für eine gelungene Inszenierung, sondern auch Ausdruck der eigenen Hilflosigkeit gegenüber einer zunehmenden Verarmung und einer Obdachlosenzahl, die in Berlin inzwischen bei etwa 20.000 liegt.

Nach der Vorstellung sammelte man sich zur Diskussion, bei der im Gegensatz zum Stück, in dem eine Zigarette nach der anderen weggequalmt wurde, nicht geraucht werden durfte. In einer Dankesrede würdigte ein bärtiger Redner der Volksbühne Jeremy Wellers Inszenierung »als begleitende Maßnahme« im Kampf gegen die Obdachlosigkeit. Eine Zuschauerin fühlte sich »hautnah« mit den Problemen konfrontiert und hatte sogar Angst gehabt, wie sie erzählte. Doch um im Theater den Alltag im Asyl darzustellen, mußte man diesen Alltag entschärfen. In Wirklichkeit sei alles zweimal so schlimm, sagte ein Schauspieler und ehemaliger Obdachloser. »Und so lange die Verhältnisse so sind«, meint der Regisseur, »kann der Rest nur Traurigkeit sein.«

Glad to be alive bis Samstag jeweils um 20 Uhr in der Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz.