Falsches Wohnverhalten

„Im Westen — alles nach Plan“: ein Dokumentarfilm über Armut in der Bundesrepublik  ■ Von Martina Habersetzer

Diesen Film wird sich niemand gerne anschauen. Denn — so ironisch und detailliert die beiden Regisseure Hans Peter Clahsen und Michael F. Huse in ihrem Dokumentarfilm den „Störfall in der Goldgräberstimmung des neuen Deutschland“ auch umkreisen, in welche Schichten ungewollter Lebensformen das Kameraauge auch vordringt — sie behandeln ein Thema, vor dem nicht nur der gemeine Kinogänger gerne die Augen verschließt: soziale Benachteiligung inmitten eines westlichen Wohlstands- und Sozialstaats, von der Bundesregierung nur zu gerne verschwiegen, kurz: die Armut in den sogenannten alten Bundesländern.

Armut, so die 'Zeit‘ in der vergangenen Woche, ist in Deutschland nicht unbedingt gleichbedeutend mit Hunger. Sie beginnt nicht erst bei Unterschreitung des physischen Existenzminimums, sondern bezieht sich auf das jeweils durchschnittliche Lebensstandard- und Einkommensniveau. So haben die beiden Regisseure auch auf effektheischende Hungerbilder verzichtet: Man sieht das ältliche Ehepaar aus Ostfriesland, das Tag und Nacht Krabben puhlt, um „über die Runden zu kommen“. Die ehemaligen DDRler, die sich auf dem Balkon des Aufnahmelagers darüber streiten, wer weniger hat — sie oder „die Türken“. Die Mutter von fünf Kindern bei ihrem regelmäßigen Besuch des zuständigen Sachbearbeiters im Sozialamt, der ihr für den Sohn eine monatliche Beihilfe von 355 Mark, für die Tochter jedoch nur 325 Mark bewilligen will. Der ihr rät, auf einen Ofen zu sparen, wenn die Familie nicht mehr frieren will. Und der sie wegen einer fehlenden Unterschrift von einer Behörde zur nächsten schickt.

Schrille Bilder des optisch so verführerischen Bahnhofs-, Obdachlosen- oder Drogenmilieus wurden bewußt ausgespart. Auch den Drehort „Moloch Berlin“, so der für die Recherchen verantwortliche Peter Kreysler gegenüber der taz, haben die FilmemacherInnen vermieden. Statt dessen mustert die Kamera die unterschiedlichsten Facetten sozialer Benachteiligung von der Nordseeküse bis zum Bayerischen Wald, von Regensburg bis Köln, dringt ihr Auge hinter die vermeintlich so harmlose Fassade schwäbischer Mietskasernen, in die ärmliche Hütte an der tschechischen Grenze, wo eine uralte, sich schwer auf ihren Stock stützende Frau eine Wolldecke über die andere schichtet. Dazwischen: Statements hochrangiger Politiker von Helmut Kohl bis Norbert Blüm („Der Armutsbericht ist doch nur etwas für Liebhaber der Statistik“), ein Bonner Staatssekretär, der im gutgeschneiderten Anzug darüber lamentiert, daß es eine allgemeingültige Definition von Armut doch gar nicht gibt und Gloria von Thurn und Taxis, die ihr soziales Gewissen mit Armenspeisungen aufpoliert. Sicher — von der allgemeinen Wohlstandsvermehrung der letzten Jahrzehnte haben auch die Armen profitiert. Die soziale Ungerechtigkeit jedoch hat weiter zugenommen. In den Altländern hat sich seit 1978 die Zahl der SozialhilfeempfängerInnen von 2,3 auf rund 4 Millionen erhöht, mindestens 120.000 Menschen sind obdachlos, Hunderttausende leben in Notunterkünften, eine Million in heruntergekommenen Wohnungen. „Da liegt schlechtes Wohnverhalten vor“, begründet der Geschäftsführer der Immobilienfirma „Grund & Boden“ im Film die Räumung einer siebenköpfigen, auf Sozialhilfe angewiesenen Familie und reproduziert somit den Druck der sozialen Marktwirtschaft bis ins letzte Glied: Wer am Markt schlecht abschneidet, wird auch im Sozialleistungssystem schlecht und unwürdig behandelt und schließlich ausgegrenzt.

Doch für manche kann auch das Setzen auf individuelle Leistung keinen Ausweg mehr bieten: Zwölf Stunden täglich habe er in einer vergifteten Batteriefirma gearbeitet, erzählt ein Familienvater, nie habe er an die Gesundheit, sondern immer nur ans Geld gedacht. Eines Tages brach er zusammen, heute ist er arbeitslos.

Störend in diesem Film ist lediglich die allzu moralisierende Stimme aus dem Off. Eine allerdings beabsichtigte Störung: Sie soll der „Widerhaken im nahtlosen Zusammenspiel von Betroffenheit und Schulterzucken“ sein — bei Menschen, die sich durch den Film in ihrer Kritik am deutschen Sozialsystem bestätigt sehen, wie auch bei denen, die die Geschichten als Angriff auf ihr festes Weltbild verstehen. Schade nur, daß besonders letztere die Hemmschwelle in den Kinosaal für diesen Film wohl kaum überwinden werden — und somit auch diese gelungene Dokumentation an der weit verbreiteten Verdrängung der bestehenden Armut nicht viel ändern wird.

Hans Peter Clahsen, Michael F. Huse: Im Westen — alles nach Plan , BRD 1990, 105 Min.