Das Regime steht auf tönernen Füßen

Die streikenden türkischen Bergarbeiter sind nach Zonguldak zurückgekehrt, um Blutvergießen zu vermeiden/ Gewerkschaftsführer reist zu Verhandlungen nach Ankara/ „Wir haben eine Schlacht verloren, aber nicht den Krieg“  ■ Aus Mengen Ömer Erzeren

Noch nie in seiner Geschichte hat das 5.000 Einwohner zählende Mengen so viele Menschen auf einen Schlag gesehen. Vor der Stadtverwaltung ist eine Demonstration durchgefrorener, wutentbrannter Menschen. Zu Tausenden erwarten die seit fünf Tagen marschierenden Frauen wie Männer die Rede des Vorsitzenden der Bergarbeitergewerkschaft, Semsi Denizer. Trotz der beschwerlichen Reise, der Kälte und des Hungers demonstrieren sie Entschlossenheit: „Auch wenn sie mit ihren Panzern und Kanonen kommen, eine Barrikade ist ein leichtes Spiel für die Kumpel“ singen sie nach einer alten türkischen Melodie.

An der Schlucht, wenige Kilometer von Mengen entfernt, hat die Staatsgewalt rund zehntausend Soldaten zusammengezogen und den Schießbefehl ausgegeben, um den Marsch der Hunderttausend zur Hauptstadt Ankara zu verhindern. „Wie kann ein Bruder auf den anderen Bruder schießen?“ singen die Arbeiter. Und: „Diktator Özal, hau ab aus diesem Land“, „Unser Krieg ist nicht am Golf, unser Krieg ist mit Özal“.

Seit ihrem Auszug aus Zonguldak sind fünf Tage verstrichen. Militär und Polizei beschlagnahmte die Busse, mit denen die Menschen nach Ankara zur Demonstration gelangen wollten. Also gingen sie zu Fuß. 90 Kilometer haben sie geschafft. Kleinere Polizeisperren und Militärbarrikaden an den Schluchten und Bergpässen haben sie gewaltlos überwunden. Den längsten Tunnel der Türkei, 903 Meter lang, ein Nadelöhr für 100.000 Menschen, die zu Fuß marschieren, haben sie passiert. Bei Temperaturen von bis zu minus fünf Grad haben sie genächtigt. Im Freien, ohne Decken, am Lagerfeuer.

Gewerkschafter durchkämmten die Lager und weckten Schlafende, um sie am Erfrieren zu hindern. Nur ein geringer Teil, vor allem Frauen, fand Unterkunft in irgendeiner Behausung. Gegen die Marschierer, die in Ankara demonstrieren wollten, um gegen die Kompromißlosigkeit der Regierung während des Streiks zu protestieren, hat die Staatsgewalt den Krieg erklärt. Krieg gegen den inneren Feind. Krieg gegen die größte Streikbewegung seit dem Militärputsch 1980. In der Provinz Zonguldak sind mehr Militärverbände im Einsatz als an der irakisch-türkischen Grenze.

„Hinter diesen Aktionen können Saddam Husseins Leute stecken“, erklärte die Arbeits- und Sozialministerin Imren Aykut. „Das ist kein Streik, das ist ein Aufstand. Während wir einer äußeren Bedrohung gegenüber stehen, müssen wir Militäreinheiten für die inneren Unruhen zusammenziehen.“ Innenminister Abdülkadir Aksu schickte das Militär. Staatspräsident Özal, für den der Marsch „illegal“ ist, drohte mit der Schließung der Minen. „Mit diesem Herrn“ — so die abfällige Bezeichnung für Gewerkschaftschef Denizer „läßt sich kein Tarifvertrag abschließen. Die Gewerkschaftsführer im Westen fordern Lohnerhöhungen zwischen zehn und zwölf Prozent. Unsere zwischen hundert und fünfhundert Prozent.“ Er vergaß hinzuzufügen, daß hundertprozentige Inflationsraten den Lohn buchstäblich wegfressen und heute ein Minenarbeiter unter Tage umgerechnet 150 bis 200 DM verdient. Auch der staatliche Propagandapparat, allen voran das Radio und das Fernsehen, wurde gegen den Kampf der Bergarbeiter eingeschworen.

Die Herrschenden nahmen ein Massaker unter den Bergarbeitern in Kauf. Sie riskierten Tote, um das Kriegsrecht zu legitimieren und um der Streikbewegung vor dem 16. Januar den Garaus zu machen. Vor der Militärbarrikade, vor der „Front“, wie die Kumpel es nennen, wurden 201 Bergarbeiter morgens um sechs Uhr teils aus dem Schlaf gerissen und festgenommen. Die Kumpel harrten trotz der Provokation in der eisigen Kälte vor dem schwerbewaffneten Militär aus. Denizer appelierte: „Wir brauchen Zelte, Decken, Medikamente, Lebensmittel. Wir rufen das türkische Volk, den Roten Halbmond, das Rote Kreuz zur Unterstützung auf.“ Doch die Verantwortlichen in Ankara ließen selbst Medikamente und Decken nicht nach Mengen durch. Die Kumpel wurden in der Schlucht von Mengen von allen Seiten eingekesselt.

Die vor dem Rathaus von Mengen Zitternden sind fest entschlossen, die Militärbarrikade zu stürmen. „Vorsitzender, wir gehen mit dir in den Tod“, rufen sie. Jeder, der an diesem Punkt zur Auflösung des Marsches und zur Rückkehr nach Zonguldak aufriefe, würde ein Pfeifkonzert und geballte Fäuste ernten. Denizer tritt an das Fenster. „Wir kämpfen für ein menschenwürdiges Leben. Seit fünf Tagen widerstehen wir Kälte, Hunger und Regen. Jedermann hat gesehen, wie Özal Lust verspürt, die Menschen zu foltern. 201 unserer Freunde haben sie verhaftet.“ Denizer hat kein Charisma, aber er genießt Vertrauen. Er will die Kumpel jetzt weder verheizen noch verraten. Er erklärt, daß er zu Verhandlungen drei Tage nach Ankara reisen wird. „Der Marsch ist beendet. Ich gehe nach Ankara, ihr nach Zonguldak. Doch unser Widerstand wird andauern, solange kein Tarifabschluß erfolgt ist.“ Mehrere unter den Frauen weinen. „Vorsitzender, hab' keine Angst“, traut sich einer zu rufen. Er bleibt isoliert. Die Minenarbeiter verstehen etwas von Strategie. Seit dem Putsch waren die Türken noch nie so aufgewühlt. Keine Bewegung erfuhr soviel Sympathie. Das Regime stand noch nie auf so wackeligen Füßen. Ergebnis der Geschlossenheit, mit der die Kumpel kämpfen.

„Wir werden auf die Worte unseres Vorsitzenden hören“, skandiert die Masse, die kurz zuvor noch gerufen hatte: „Es gibt den Tod aber kein Zurück.“ Die Kumpel strömen zurück. „Ich gehe nicht ohne meinen Mann“, weint eine Frau. Umstehende Streikende beruhigen sie. „Wir haben eine Schlacht verloren, aber nicht den Krieg“, sagt einer der Kumpel.