Israel vor dem 15.Januar
: Düstere Szenarien

■ Israel blickt mit lähmendem Fatalismus in die Zukunft. Auch bei einer Verhandlungslösung würde das Land politischer Verlierer sein, von Washington sieht man sich zunehmend im Stich gelassen. Und über 7.000 Menschen verlassen täglich das Land.

Das Spektakel, das Saddam Hussein zum Jahresanfang der Welt bot, als er bei einem Nachtbesuch an der Front, umgeben von seinen Truppen, wie ein böser Hexer Salz in einen riesigen Kessel aufs offene Feuer streute, ließ in Israel ein fast hörbares Schaudern durch das Volk gehen. Auf einmal schien man das vor Augen geführt zu bekommen, was man seit Monaten zu verdrängen versucht: In Bagdad wird ein teuflischer Brei vorbereitet, und ihn wird man in Tel Aviv auslöffeln müssen. Seit dem Anfang der Krise hat sich die israelische Bevölkerung bemüht, über die Lage am Golf möglchst wenig nachzudenken. Die Regierung, durch den als Bitte verkleidete Befehl Washingtons, ein „niedriges Profil“ zu halten, zum Schweigen verurteilt, leistete sich nur gelegentliche Ausrutscher. Die Drohungen Saddams, seine Raketen nach Tel Aviv zu schicken, wie auch die Antworten israelischer Politiker wechselten mit einer solchen Häufigkeit, daß sie bald kaum noch wahrgenommen wurden. Das Verteilen von Gasmasken nahm die Bevölkerung gelassen als Pflichtübung hin. Nicht einmal die blutige Schlacht am Jerusalemer Tempelberg und der darauffolgende internationale Aufschrei konnte die wie in eine Trance verfallene israelische Öffentlichkeit davon abbringen, so zu tun, als ob sie der Streit um Kuwait nichts anginge.

Erst als die UNO Ende November Saddam das Ultimatum stellte, wurde man in Israel allmählich wach. Denn in den folgenden Wochen lieferten die zu oft wiederholten Zusicherungen der USA und deren Verbündeten, daß die Golfkrise und der israelisch-palästinensische Konflikt in keinem Zusammenhang stünden, den unüberhörbaren Beweis, daß die beiden Fragen nicht mehr voneinander zu trennen sind. Mit lähmendem Fatalismus blickt man in Israel in die Zukunft. Zwar zweifelt man nicht daran, daß die israelische Armee der Bedrohung aus dem Irak wird standhalten können. Doch wie auch immer die Krise am Golf gelöst wird, eines scheint gewiß: mit oder ohne Krieg wird Israel am Ende zu den Verlierern zählen.

Unter den zahllosen Szenarien für die Entwicklung der Lage am Golf, die in Israel für möglich gehalten werden, gilt eine friedliche Einigung zwischen Washington und Bagdad als die denkbar ungünstigste. In Jerusalem rechnet man damit, daß spätestens am dem Tag, an dem der letzte irakische Soldat Kuwait verläßt, die UNO mit der Unterstützung Washingtons, Moskaus und der Europäischen Gemeinschaft eine internationale Konferenz zur Lösung des israelisch-arabischen Konflikts einberufen wird. Man zweifelt nicht daran, daß die PLO nicht nur eine Einladung zur Teilnahme, sondern als Gastgeschenk auch einen eigenen, auf derzeit von Israel besetzten Gebieten zu errichtenden Staat zugesprochen bekäme; Syrien würde seinen Anspruch auf eine Rückgabe der ihm 1967 verlorengegangen Golan-Höhen geltend machen. Auf eine Weigerung Israels, an einer solchen Konferenz teilzunehmen, würde die UNO voraussichtlich mit Sanktionen antworten. Zu einer Zeit, in der bis zu 2.000 sowjetichen Juden täglich ins Land einwandern, müßte Israel innerhalb kürzester Frist nachgeben.

Die Möglichkeiten Israels, einer solchen Entwicklung durch die Provozierung eines Kriegs am Golf vorzubeugen sind militärisch vorhanden, aber politisch begrenzt. Bei seinem letzten Besuch in Washington kaufte Premierminister Schamir Zugang zu aktuellen US-Satellitenbildern für Israel ein, mit dem Versprechen, keinen Schlag gegen Irak ohne Absprache mit dem Weißen Haus zu führen — laut manchen Berichten selbst dann, wenn Israel zuerst angegriffen wird. Angesichts der wachsenden Opposition zu einem Krieg im amerikanischen Kongreß, würde ein Wortbruch der israelischen Regierung, der die Bemühungen um eine friedliche Lösung am Golf vereitelte, einem diplomatischen Selbstmord gleichkommen.

Masochisten unter den strategischen Planern in Jerusalem malen sich eine Situation aus, in der Saddam versucht, von der Kuwaitfrage abzulenken, indem er einen Vorwand findet — eine nicht notwendigerweise ganz freiwillig erteilte Einladung des jordanischen Königs Hussein zum Beispiel — Truppen ins haschemitiche Nachbarland zu schicken. Die Stationierung von irakischen Soldaten im Jordan-Tal wird im israelischen Militärestablishment als unzulässiges Sicherheitsrisiko gesehen und galt schon vor dem Ausbruch der Golfkrise als Casus belli. In der jetzigen Lage jedoch würde eine israelische Reaktion, vor allem, wenn sich Saddam gleichzeitig den USA gegenüber konzessionsbereit zeigt, vermutlich das Ende der arabisch-westlichen Koalition gegen Irak bedeuten und somit im Widerspruch zu den US-Interessen am Golf stehen. Solange die USA noch eine knappe halbe Million Truppen in der Region haben, würde auch hier das Risiko bestehen, daß Israel, beim Versuch, sich selbst zu schützen, die Schuld dafür bekäme, die USA in einen Krieg hineingezogen zu haben, den sie nicht wollen.

Inzwischen mehren sich die Zeichen aus Jordanien, daß Israel sich bald mit genau solch einem Dilemma konfrontiert sehen könnte. Neue Luftschutzbunker wurden gebaut und die militärische Präsenz am Jordan verstärkt. König Hussein hat die neuen Schritte als „Vorbereitungen auf einen möglichen israelischen Angriff“ bezeichnet. Schon seit einem Jahr äußert der König seinen Verdacht, daß Israel den Plan hegt, ihn zu stürzen, die Palästinenser auf der Westbank in sein Reich zu vertreiben, und aus Jordanien Palästina zu machen. Nach seiner Auffassung steht zu befürchten, daß die Schamir-Regierung die jetzige Lage in Nahost als günstig für die Verwirklichung dieses Plans sieht.

In Jerusalem werden des Königs Ängste als Hirngespinste bezeichnet. Die militärischen Vorbereitungen Jordaniens werden als Zeichen gesehen, daß der jordanische Herrscher, der mit der Unterstützung seines Volks Saddam zur Seite steht, „etwas weiß, was wir nicht wissen“. In den letzten Wochen haben Israels Premier-, Verteidigungs- und Außenminister den König ausdrücklich davor gewarnt, sich in den Streit zwischen Israel und Irak einzumischen. „So langer er ruhig bleibt, hat er nichts zu fürchten“, versicherte Stabschef Dan Schomron.

Aus israelischer Sicht ist jede Lösung der Golfkrise, die das irakische Militärpotential intakt läßt, eine schlechte Lösung. Während die derzeitige Fähigkeit Saddams, seine Raketen zielsicher nach Tel Aviv einzufliegen, sehr unterschiedlich eingeschätzt wird, zweifelt niemand daran, daß — sofern man ihn lässt — Saddam innerhalb von zwei bis fünf Jahren in der Lage sein wird, seine Worte womöglich sogar mit nuklearen Taten zu bekräftigen.

Insofern ist, vom strategischen Standpunkt Israels aus gesehen, ein amerikanischer Angriff auf die militärischen Installationen Iraks das Szenario der Wahl am Golf. Dabei ist man sich in Jerusalem darüber im Klaren, daß eine solche Entwicklung, auch wenn es den militärischen Druck auf Israel vorerst abschwächen würde, die langfristigen strategischen Problem des jüdischen Staates nicht lösen kann. Denn solange Israel in den Augen seiner Nachbarn und auch im eigenen Selbstbild als Fremdkörper im Nahen Osten gesehen wird, wird auch seine Existenz gefährdet sein.

Durch die Golfkrise sind die Israelis ihrer Isolation wieder einmal voll bewußt geworden. Vor allem das Verhalten der USA, die sich von Israel soweit wie nur möglich zu distanzieren bemühen, und in ihrem ehemals engen Verbündeten jetzt nur noch eine Störfaktor zu sehen scheinen, zwingt Israel dazu, die Grundsätze seiner Sicherheitspolitik neu zu überdenken. Denn die Interessen der beiden Länder gehen langsam auseinander. Zeichen dafür hatten sich schon in den letzten Jahren vermehrt, als die USA immmer näher an die Positionen Europas und der Sowjetunion in der Palästinenser-Frage rückte und aus den Meinungsverschiedenheiten zwischen Washington und Jerusalem über die Zukunft der seit 1967 besetzten Gebieten ein offener Streit wurde. Die Bereitschaft der Amerikaner in den letzten Monaten, dem UNO-Sicherheitsrat eine immer größere Rolle in der Palästinenser-Frage einzuräumen, auch wenn dies als Teil ihrer Golf-Politik notwendig war, hat das Vertrauen Israels in seinen großen Beschützer weitgehend zerstört. Man glaubt nicht mehr, daß auf die Amerikaner in einem Notfall Verlaß ist. Zudem haben israelische Militärexperten mit zunehmendem Entsetzen die Verzögerungen, Fehler und Unfälle, die die amerikanische Mobilisierung am Golf begleiteten, registriert. Sollte Israel eines Tages die schnelle Rückendeckung der US-Streitkräfte benötigen, hat man nicht mehr das Vertrauen, daß Washington, selbst beim besten Willen, sie tatsächlich bieten könnte.

Somit sieht sich Israel mehr denn je auf die Stärke seiner eigenen Armee angewiesen. Aber auch hier ist man unsicherer geworden. Das Selbstvertrauen, das dem spektakulären Sieg im Sechs-Tage-Krieg folgte, ist verschwunden. Das Bild der israelischen Armee als eine idealistisch motivierte, moralisch überlegene, hochqualifizierte Truppe von Kämpfern hat sich verwischt. Im Libanon-Krieg mußten zuviele Soldaten wegen Diebstahl, Drogenmißbrauch und Schmuggelgeschäften verurteilt werden. Beim Versuch, den palästinensischen Aufstand zu unterdrücken, waren es zu wenige, die wegen Brutalität vor Gericht standen.

Vor allem die Intifada schadete nicht nur der Moral der Armee, sondern auch ihrer Fähigkeit, die Aufgabe zu erfüllen, für die sie gedacht war: die Veteidigung Israels. Reservisten, die steinewerfende Kinder durch die Straßen jagen, haben ihre Artillerie-Batterien und Panzer seit langem nicht mehr gesehen, klagt 'Haaretz‘-Korrespondent Z'ev Schiff. „Um sich an die neuen Waffen und Taktiken zu gewöhnen, braucht es mehr als nur ein paar Tage Training, bevor man sie einsetzt,“ warnt er.

In den letzten Jahren ist gleichzeitig die Zahl der Zwischenfälle an den Grenzen, bei denen israelische Soldaten mit zum Teil tödlichen Folgen überrascht wurden, bedenklich gestiegen. Auch die israelische Luftwaffe, die vom Verteidigungsminister Mosche Arens diese Woche als „die beste der Welt“ beschrieben wurde, hat etwas von ihrem Glanz eingebüßt. Vor zwei Monaten wurde ein hoher Offizier der Luftwaffe von der Polizei wegen Korruption verhaftet. Zuständig für den Ankauf von Ersatzteilen, Munition und verschiedene Dienstleistungen für die Luftwaffe, soll er Millionen von Dollar aus dem israelischen Verteidigunsetat in die eigene Tasche gewirtschaftet haben.

Sollte es in den nächsten Wochen oder Monaten zu einem Krieg kommen, ist man in Israel noch immer zuversichtlich, daß sowohl die technologische Überlegenheit der israelischen Waffen wie auch die erprobte Fähigkeit israelischer Piloten das Land und die Bevölkerung vor all zu großem Schaden wird verteidigen können. Für die meisten Israelis ist dies allerdings nur ein kleiner Trost. Die Entscheidung internationaler Fluggesellschaften, ihre Flüge nach Tel Aviv zu reduzieren oder gänzlich zu stornieren, und die sich mehrende Wahrnungen europäischer Regierungen an ihre Staatsbürger, Israel vor dem 15. Januar zu verlassen, haben stärker auf das israelische Bewußtsen eingewirkt als alle Drohungen aus Bagdad zusammen. Denn jetzt fühlt man sich nicht nur abgeschnitten und allein. Man ist es tatsächlich. Hal Wyner, Jerusalem