Eine verzerrte Erinnerung

Der Zweite Weltkrieg als „der gute“ der USA  ■ Von Studs Terkel

„Der ,gute Krieg‘“ ist eine Textsammlung. Studs Terkel befragt 72 Zeitzeugen des Zweiten Weltkriegs, um in Erfahrung zu bringen, wie dieser „gute Krieg“ in den USA heute weiterwirkt. Wir dokumentieren einen Auszug aus seinem Vorwort.

Der Ex-Admiral sagt es auf seine Weise: „Der Zweite Weltkrieg hat unsere heutige Sicht der Dinge verzerrt. Wir betrachten die Dinge nach den Kategorien des Krieges, der in gewissem Sinn ein guter Krieg war. Aber die verzerrte Erinnerung an ihn ermutigt die Männer meiner Generation, willens, ja, beinahe erpicht darauf zu sein, überall auf der Welt militärische Gewalt anzuwenden.“

In einem kleinen Landstädtchen im Mittelwesten gibt es eine Großmutter, sanft und gütig, die sicher ist, für die meisten Leute aus der Stadt zu sprechen: „Die Leute hier finden, wir hätten in Vietnam einmarschieren und sie erledigen sollen, statt uns zurückzuziehen, wie wir es getan haben. Ich nehme an, dieses Gefühl ist vom Zweiten Weltkrieg zurückgeblieben, als wir Hitler erledigten. Ich weiß, daß die älteren Männer, die in diesem Krieg gekämpft haben, es so empfinden.“

Big Bill Broonzy hat es anders ausgedrückt. Es kam ganz unabsichtlich eines Abends in einem Chicagoer Nightclub. Er hatte einen Countryblues über einen Zinsfarmer gesungen, dem sein Maultier gestorben war. Die Story war von ihm. Während seines Auftritts verließen vier schicke junge Leute unter großem Aufsehen das Lokal. Ich arbeitete an diesem Abend als Ansager, und ich war wütend. Big Bill lachte. Er lachte immer in solchen Augenblicken. Vielleicht lachte er, um nicht zu weinen. „Was wissen denn diese Kids von 'nem Maultier? Die haben noch nie 'n Maultier gesehen. Was soll man denn für etwas empfinden, das man nicht kennt. Als ich in Europa war, überall, Milano, Hamburg, London, da hab ich ausgebombte Städte gesehen. Die Leute erzählen mir von den Bombenangriffen. Was weiß ich von 'ner Bombe? Das einzige Mal, daß ich 'ne Bombe gesehen hab, war im Kino. Die Leute haben Angst, sie weinen. Verlieren ihr Heim. Aber was weiß ich davon? Auf mich ist noch nie 'ne Bombe gefallen. Mit diesen Kids ist es genauso. Denen ist noch nie 'n Maultier eingegangen. Sie wissen gar nicht, wovon, zum Teufel, ich da eigentlich rede.“

In diesem Augenblick formulierte Big Bill die bedeutsamste und zugleich unstatthafteste aller Herausforderungen: Muß eine Gesellschaft das Grauen erleben, um das Grauen zu verstehen? Unser Land hatte als einziges unter allen Kombattanten des Zweiten Weltkriegs keine Invasion und keinen Bombenangriff erlebt. Unsere Städte waren als einzige nicht in Schutt und Asche gelegt worden. Unser Willie und unser Joe waren an der Front gewesen, aber wir anderen waren in Sicherheit geblieben, umschlossen von zwei Ozeanen. Was unsere Alliierten und unsere Feinde betraf: Zivilisten wie Militärs hatten irgendwann an der Front gestanden: Die Briten, die Franzosen, die Russen (zwanzig Millionen Tote — vielleicht dreißig Millionen, sagt Harrison Salisbury), aber auch die Deutschen, die Italiener, die Japaner. Ganz zu schweigen von den Slawen der entlegeneren Gegenden. Und natürlich von den europäischen Juden. Und den Zigeunern. Und den „Untermenschen“ aller Art.

Freilich, ein unstillbarer Schmerz lag über den Familien derjenigen Amerikaner, die nach dem Triumph der Alliierten gefallen oder verstümmelt waren. Plätze, Straßen und Brücken hat man benannt nach diesen jungen Helden, den besungenen und den unbesungenen. Aber der lässige Abgang der vier schicken jungen Leute in dem Chicagoer Nightclub ist vielleicht die brutalste und furchtbarste Metapher, die wir zu entziffern haben.

Der altgewordene japanische hibakisha (Überlebender der Atombombe) betrachtet den Tag, an dem die Bombe auf Hiroshima fiel. Er war damals ein neunzehnjähriger Soldat auf dem Weg durch die Stadt. „Die Kinder schrien: ,Bitte nehmt uns diese Maden vom Körper.‘ Für mich, einen einzelnen Soldaten, war es unmöglich, so vielen Menschen zu helfen. Der Doktor sagte: ,Wir können nichts machen. Sterilisiert die Wunden mit Salzwasser.‘ Wir nahmen einen Besen, tauchten ihn in Salzwasser und bestrichen damit die Körper. Die Kinder sprangen auf: ,Ich renne weg. Ich muß rennen.‘“ Der Dolmetscher korrigiert ihn. „Im lokalen Dialekt bedeutet das ,Danke‘.“

Der große junge Infanterist begreift das Grauen. Er war, nachdem er in Europa um ein Haar davongekommen war, erneut in der Ausbildung zur Invasion Japans, als die erste Atombombe abgeworfen wurde. „Für uns war auf halbem Weg über den Pazifik Schluß. Wie viele von uns wären auf dem Festland ums Leben gekommen, wenn es keine Bombe gäbe? Einer wie ich hat solche Alpträume.“ Auch sein damaliger Kumpel. „Wir sitzen am Pier in Seattle und schleifen unsere Bajonette, als Harry diese wundervolle Bombe wirft. Das Größte, was je passiert ist. Jeder, der damals mit am Pier saß, würde da zustimmen.“ Der schwarze Kriegsberichterstatter sieht es ein wenig anders. „Ist Ihnen klar, daß die meisten Schwarzen glauben, die Bombe auf Hiroshima wäre nicht abgeworfen worden, wenn die Stadt weiß gewesen wäre?“ Augenzeugen der Brandbombenangriffe auf Dresden werden dieser Auffassung vielleicht widersprechen.

Die krönende Ironie lag im Zweiten Weltkrieg selbst. Es war ein Kieg von anderer Art gewesen. „Er war nicht wie eure anderen Kriege“, reflektierte ein Diskjockey im Radio laut. In dieser Banalität lag eine wilde Art von verrückter Wahrheit. Es war kein brudermörderischer Krieg. Es war, davon waren die meisten von uns zutiefst überzeugt, kein „imperialistischer“ Krieg. Unser Feind war ganz offenkundig obszön: der Schöpfer des Holocaust. Es war ein Krieg, den viele, die sich gegen „eure anderen Kriege“ gestellt hätten, voller Enthusiasmus unterstützten. Es war ein „gerechter Krieg“, wenn es ein solches Tier gibt. In einer Zeit der nuklearen Bewaffnung ist dies die Sprache eines Wahnsinnigen. Aber der Zweite Weltkrieg...

Er endete in einer hoffnungsvollen Tonart, wie sie in der Geschichte ohne Beispiel war. „On a Note of Triumph“ nannte Norman Corwin sein beredtes Rundfunkprogramm, das am Tag des Sieges in Europa, am 8.Mai 1945, von Küste zu Küste zu hören war.

Eine Frau von der Westküste erinnert sich aus einer Reihe von Gründen an den Tag dieser Sendung. „V-E Day. Oh, was für eine Freude! Und San Francisco war auserwählt, Schauplatz der ersten Sitzung der Vereinten Nationen zu sein. Ich war in Ekstase. Stalin, Churchill und Roosevelt trafen zusammen und irgendwie würde es nie wieder einen Krieg geben.“ Sie war Platzanweiserin im War Memorial Opera House, als die UN im Juni 1945 zu ihrer ersten Sitzung zusammenkam. „Ich war noch in meiner kleinen ,Miss Burke School‘-Uniform. Halblange Jacke und Rock. Ich war ein Teil des Ganzen. Aber ich war so stolz. Als die Überlebenden des Holocaust herauskamen, hatte ich das Gefühl, daß wir sie befreit hatten. Als die GIs und die russischen Soldaten sich begegneten, da waren es lauter Ritter in glänzenden Rüstungen, die die Menschheit retteten.“ Sie lachte leise. „Aber es ist nicht so einfach. Der Zweite Weltkrieg war einfach eine unschuldige Zeit in Amerika. Ich war unschuldig. Ich glaube, seit dem Zweiten Weltkrieg habe ich einen objektiveren Blick auf das, was dieses Land wirklich ist.“

Mit freundlicher Genehmigung des Verlags entnommen aus: Studs Terkel: „Der ,gute Krieg‘. Amerika im Zweiten Weltkrieg“, Schneekluth-Verlag, 552 Seiten, geb. 64DM.