Revolution, Fortschritt und Verfassung

■ Der Bremer Verfassungsrechtler Ulrich Preuß, Berater an der Ausarbeitung des Verfassungsentwurfes des 'Runden Tisches‘ der DDR, hat Ansätze für eine „zeitgemäße Verfassung“ formuliert/ Ein Beitrag zur Diskussion um das Grundgesetz

„Die Eule der Minerva beginnt erst mit der einbrechenden Dämmerung ihren Flug.“ Wenn diese Metapher aus Hegels Rechtsphilosophie zutrifft — Erkennen sei erst möglich, nachdem „die Wirklichkeit ihren Bildungsprozeß vollendet hat“ — dann mußten jene, die die deutsche Einheit nicht gemacht haben (weil sie nicht an der Regierung waren), die Wahlen verlieren. Ihre Zeit (der Analysen und Konzepte) war noch nicht gekommen.

Nun sind SPD und Grüne zwar keine Philosophen, weshalb es auch nach „Einbrechen der Dämmerung“ nicht so recht klappen will. Aber warum soll man nicht auch einmal von Politikern verlangen, daß sie nicht begriffsstutzig auf der Stelle verharren, bis es dunkel ist und sie ihr orientierungsloses Herumtappen dann den Umständen anlasten können. Es soll später keiner sagen, es hätte kein Licht mehr gegeben, um das Land zu überblicken und Wege zu finden: Das von Habermas wieder in die Debatte gebrachte Konzept des „Verfassungspatriotismus“ zum Beispiel ist hell genug, einen postnationalen Horizont erkennen zu lassen.

Die „kollektive Identität“ im vereinigten Deutschland muß nicht an alte nationalstaatliche Zeiten anknüpfen. Dagegen spricht schon der immer größer werdende Anteil jener Menschen an der Gesamtbevölkerung, die in einem von Nationalismus weitgehend freien Milieu aufgewachsen sind. Vor allem aber bieten die Auflösung der Militärblock- Konfrontation, der europäische Einigungsprozeß und die zunehmende Ausformung supranationaler Institutionen die Chance, daß die Idee des Nationalstaates langsam verblaßt.

Diese frei werdende Leerstelle mit dem identifikationskräftigen Modell einer radikal-demokratisch verfaßten Republik zu füllen, deren Baumeister nicht die Staatsmänner, sondern die Gesellschaftsmitglieder selbst sind, ist eine politische Aufgabe von historischem Ausmaß, was die Grünen im Unterschied zu den Organisationen der Bürgerbewegung aus der ehemaligen DDR noch nicht kapiert haben. Es werden sich nämlich nicht automatisch über den vom „Deutschsein“ geräumten Stellungen moralisch aufgeklärte Kosmopoliten die Hände zu einer ökologisch und sozialen Gemeinschaft reichen.

Die Steuerungsmechanismen komplexer Industriestaaten — Geld und administrative Macht — sind nicht nur offensichtlich blind gegenüber deren sich ständig vergrößernden Selbstzerstörungspotential, sie haben auch binnengesellschaftlich expansive Tendenzen. Das könnte auf Dauer eine soziale, durchs gesamtgesellschaftliche Bewußtsein vermittelte Integration der Lebenswelten blockieren. Einer Verallgemeinerung des Lambsdorff-liberalen Sozialcharakters Großstadt- Yuppie stünde dann nichts mehr im Wege. Im Zeitalter der ökologischen Katastrophen könnte aber nicht einmal ein Leviathan diese „rational“ wirtschaftenden Egoisten zu einer lebensfähigen, wo schon nicht menschlichen, Gemeinschaft zwingen.

Aber wie soll dies mit einm Verfassungskonzept beeinflußt werden können, und mit welchem? Das versucht der Bremer Verfassungsrechtler Ulrich Preuß — Ideenlieferant für „intellektuelle Eingreiftrupps“ (M. Greffrath) — in seinem jüngst erschienenen Essay Revolution, Fortschritt und Verfassung zu beantworten. Es geht ihm um die Bedingungen, die eine „zeitgemäße Verfassung“ zu erfüllen hätte. Das ist für die gegenwärtige Diskussion um das Grundgesetz und die in den fünf neuen Bundesländern zu erarbeitenden Verfassungen gar nicht hoch genug einzuschätzen.

Der nicht nur staatsrechtlich, sondern auch sozialwissenschaftlich kompetente Autor bringt wichtige praktische Erfahrungen mit. Er war als Berater an der Ausarbeitung des Verfassungsentwurfes des Runden Tisches der DDR beteiligt. Das gibt seinen weit in die Zukunft reichenden Ideen Bodenhaftung in der Gegenwart.

Nach einer Klärung des Verfassungsbegriffs der Aufklärung gelingt ihm eine luzide Analyse der Umbrüche in Osteuropa 1989. Das treibende Element dieser Revolutionen wurzele im liberalen politichen Erbe: „Die Idee der Verfassung, die am Beginn der amerikanischen und der französischen Revolution gestanden hatte, spielte auch in den Umwälzungen in Polen, der CSSR, in Ungarn und der DDR eine überragende Rolle.“

Preuß nennt die Umstürze denn auch „Verfassungsrevolutionen“. Sie erinnern uns daran, „daß der Fortschritt zu allererst eine moralische Idee ist“, die nicht einem historischen Subjekt überantwortet werden kann. Sie zeige vielmehr, daß das „Vermögen zum Besseren in der menschlichen Natur“ (Kant) heute vor allem in der Reflexion dieses Vermögens liege. Tatsächlicher Fortschritt bestünde dann darin, „dieser Anlage zur Reflexion einen institutionellen Wirkungsbereich zu geben — in Gestalt einer zeitgemäßen Verfassung“.

Verfassungen sind im wesentlichen ein Produkt der bürgerlichen Moderne. Sie enthielten von Anbeginn an jene fundamentalen Grundsätze der Staatsorganisation (Gewaltenteilung, Volkssouveränitat, etc.) und Individualrechte, an die auch der Gesetzgeber gebunden sein sollte, weil man sie für schlechthin wahr hielt. Damit war ein folgenreiches Problem verbunden, das bis heute ungelöst ist. Wenn Verfassungen feststellen (zum Beispiel das Grundgesetz in Artikel 20): „Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus“, und gleichzietig einzelne Bestimmungen für unabänderbar erklären, also der Regelungsgewalt des Volkes entziehen (im Grundgesetz den Artikel über die Menschenwürde, die Gewaltenteilung, das Demokratie-, Rechtsstaats- und Bundesstaatsprinzip), dann liegt ein Widerspruch vor: Die Volkssouveränität ist Grundlage der Verfassung und doch gleichzeitig eingeschränkt.

Noch nicht einmal zukünftige Generationen sollen die schlechthin „wahren“ Bestimmungen ändern können. Kant und Jefferson haben eine solche Beschränkung mit der Begründung abgelehnt, damit werde die Möglichkeit gesellschaftlicher Lernprozesse ausgeschlossen.

Ein weiteres Merkmal von Verfassungen ist ihre Normativität, das heißt, sie sind Maßstab zur Beurteilung der Gesellschaft. Damit, so Preuß, „ist eine Delegitimierung aller Zustände verbunden, die der Normativität der Verfassung nicht entsprechen“. Auf diese Weise werde die Verfassung „zu einem rechtlich verbindlichen Bauplan für die rationale Konstruktion der Gesellschaft“. Sie reflektierte nicht bloß die gesellschaftlichen Zustände (wie dies in der vordemokratischen Moderne für die „constitution“ noch typisch war), sondern „beanspruchte, sie nach ihrem Bilde zu gestalten“.

Das bürgerliche Verfassungsverständnis richtete sich in erster Linie auf die Begrenzung der staatlichen Macht, weil in der Tradition der Aufklärung Freiheit als der Königsweg zum Fortschritt angesehen wurde. Diese vor allem in der Gewaltenteilung und im amerikanischen System der „checks and balances“ zum Ausdruck kommende Überzeugung hat einen nicht erwarteten Effekt: „Die höchste Zentralisierung der politischen Gewalt (schwächt) die Gesellschaft schließlich und damit auf die Dauer die Regierung selbst“, wußte schon Tocqueville.

Die osteuropäischen Revolutionen belegen das eindrucksvoll. Der Grund sei, so Preuß, daß Souveränität selbst-negatorisch sei, „weil sie systematisch die Bedingungen ihrer Möglichkeit — Informationen über den Gegenstand der Herrschaft — zerstört“. Gesellschaften könnten sich nämlich nur selbst regulieren, wenn sie in dem Maße, in dem sie sich ausdifferenzieren, institutionell das Vermögen entwickeln, sich (sozusagen im Wege der Selbstwahrnehmung) über die Vielfalt der vorhandenen Bedürfnisse und Interessen zu informieren.

Die Demokratien des 20.Jahrhunderts haben — gewissermaßen als Resultat ihrer Selbstwahrnehmung — in einem kollektiven Lernfortschritt „den aus der sozialen Frage des 19.Jahrhunderts hervorgegangenen Klassenkampf in die institutionellen Formen wohlfahrtsstaatlicher Massendemokratie transformiert“.

Die Qualität einer Verfassung liegt also nicht darin, „wie sehr sie 'ewige‘ und 'wahre‘ Prinzipien verbindlich festlegt, sondern welche Institutionen und Verfahren sie zur Verfügung stellt, mittels derer die Gesellschaft gegenüber ihren partikularistischen Kräfte und selbstdestruktiven Tendenzen die Fähigkeit zur Selbsterhaltung in zivilisierten Formen, daß heißt ihre eigene Verfaßtheit, bewahren kann“.

Mit diesem systemtheoretisch informierten Ansatz kann Preuß die entscheidende Schwäche des traditionellen, auf Machtteilung konzentrierten Verfassungsverständnisses vermeiden: Das „selbstgeschaffene Destruktionspotential der Märkte kapitalistischer Verfassungsstaaten“ sei weder mit „checks and balances“ noch durch eine wohlfahrtsstaatliche Sozialbindung der Freiheit zu bändigen. Die Gesellschaft muß sich vielmehr Organe der Wahrnehmung von „Prozessen kollektiver Selbstschädigung“ und Organe der Steuerung schaffen. Eine Verfassung, die entsprechende institutionelle Bedingungen herstellt, nötigt die Gesellschaft zur Selbstrationalisierung und Selbstverbesserung.

In der „Risikogesellschaft“ (Beck) am Ende des 20.Jahrhunderts kommt zu den klassischen Problemen einer (Um-)Verteilung von Macht und Reichtum das einer „richtigen“ Verantwortungsverteilung. Dafür fehle es aber, sagt Preuß, zunehmend an verallgemeinerungsfähigen Kriterien. In hocharbeitsteiligen Industriegesellschaften werde es immer schwieriger, einzelne nach Kriterien der Verursachung oder der Schuld für Handlungsfolgen haftbar zu machen, die von ihrem Standpunkt aus rational erscheinen, in ihrer Summierung jedoch zur kollektiven Selbstschädigung und zur Steigerung des Risikopotentials beitrügen.

Nun tauchen darüber hinaus in Wissenschaft und Technologie immer häufiger Fragen auf, die schon deshalb rein wissenschaftlich nicht mehr gelöst werden können, weil sie unmittelbar Auswirkungen auf die Gesellschaft haben (Großtechnologien benutzen die Gesellschaft buchstäblich als Labor), also ethische Fragen berühren. Eine „zeitgemäße Verfassung“ müsse daher die ethische Reflexion des wissenschaftlichen Fortschritts ermöglichen, könne aber — aus den eben genannten Gründen — „auf keine universellen Prinzipien verweisen, die die begründete Aussicht auf übereinstimmende Urteile in der Gesellschaft eröffnen“.

Auch die Menschenrechte verlieren bei solch moralischer Ambivalenz ihre Eindeutigkeit: Was ist im Zeitalter der Gentechnologie unter der in Artikel 1 des Grundgesetzes verankerten „Würde des Menschen“ zu verstehen? Bei intensiven moralischen Dissensen wirke das Mehrheitsprinzip nicht mehr integrativ. An seine Stelle werden, so Preuß, „Verfahren der Aushandlung von Moratorien, Versuchsprojekten, Minderheitenrechten für 'moral communities‘, öffentliche Foren für die Diskussion alternativer Erkenntnis- und Kompromißbildung nach dem Muster 'Runder Tische‘ treten“.

Unabhängig davon, ob Preuß hier nur eine Prognose trifft oder diese (vermutete) Entwicklung auch begrüßt, in jedem Fall ist das kaum lösbare Problem einer potentiellen Unendlichkeit der Einigungsverfahren gestellt: Solange Minderheiten dissentieren und das Mehrheitsprinzip nicht gilt, können sie das Verfahren stets verlängern oder neu einleiten. Die in der modernen (kontingenten) Welt prinzipielle Zeitknappheit wird dann den „Sachzwang“ zum stärksten Argument machen.

Am Ende seines Essays benennt Preuß „konkrete Ansätze“ für eine Verfassung, die der Gesellschaft die institutionellen Bedingungen „moralischen und kognitiven Lernens“ bereitstellen soll, bis hin zur Möglichkeit, die Bedingungen der institutionalisierten Diskurse selbst stets neu zu formulieren („moralisch-reflexiver Konstitutionalismus“).

Sie finden sich im Verfassungsentwurf des 'Runden Tisches‘ der DDR, der insbesondere „Prozesse der Informations- und Wissensverteilung“ betone: Das Recht, über die eigenen Daten selbst zu bestimmen, korrespondiert dem Recht, Einsicht in die einen selbst betreffenden Dateien und Akten nehmen zu können (Artikel 8); Meinungsfreiheit beinhaltet dann die Normierung eines Prinzips der „Vielfalt der in der Gesellschaft vorhandenen Meinungen“ (Artikel 15); dem Gesetzgeber werden Informationspflichten „in bezug auf besonders risikobehaftete Forschungen“ auferlegt (Artikel 19).

Die „Zivilgesellschaft“ ist auf aktive Bürgerinnen und Bürger angewiesen. Deshalb müssen auch „Vereinigungen, die sich öffentlichen Aufgaben widmen und dabei auf die öffentliche Meinungsbildung einwirken (Bürgerbewegungen)“ wie Parteien unter den besonderen Schutz der Verfassung gestellt werden (Artikel 35).

Das wäre ein Anfang. Preuß' scharfsinnige Thesen für ein „neues Verfassungsverständnis“ bestimmmen weitere Koordinaten für den Flug von Minervas Eule. Karl Heinz Merkel

Ulrich K. Preuß, Revolution, Fortschritt und Verfassung. Zu einem neuen Verfassungsverständnis. Wagenbach Verlag, Berlin 1990.