Nixen und Atomraketen

Der Legende nach floh die Seejungfrau Syrena vor ihren Feinden aus der Ostsee weiselaufwärts, bis sie in einer Furt in den Urwäldern Mazowiens erschöpft niedersank. Dort wurde sie von Menschen gefunden, die ihr Schwert und Schild zur Verteidigung vor ihren Verfolgern schenkten. Zum Dank versprach die Nixe den Schutz des Lebens, der Arbeit und der Wohnstätten. Daraufhin gründeten die Leute, die sie gefunden hatten, an dieser Stelle eine Siedlung. Heute ist dieses Dorf eine Großstadt und heißt Warschau. Die Seejungfrau Syrena ist immer doch da. Sie präsentiert sich, in Stein gehauen, schwertschwingend als Denkmal am Weiselufer. Außerdem fungiert das Fischweib als Wappenfigur der polnischen Hauptstadt.

Die derzeitigen Stadtväter Warschaus sind gerade dabei, die Nixe zu verscherbeln. Aus schierer Not wollen sie die Wappenfrau an möglichst viele Interessenten verkaufen. Mit diesem Fischmädchenhandel soll der Stadt eine neue Geldquelle erschlossen und auch das als besonders schutzbedürftig eingestufte Denkmal an der Poniatowski-Brücke erhalten werden. Bisher mußten lediglich die Warschauer — egal ob Taxifahrer, kleiner Privatunternehmer oder Großbetrieb —, die mit der Syrena werben wollten, für die Erteilung der Lizenz durch die Stadtverwaltung zahlen. Allen Nichtwarschauern war der Umgang mit der schönen Nixe strengstens untersagt. Jetzt darf jeder, der will, gegen einen entsprechenden Obolus versteht sich, die steinerne Dame zu Reklamezwecken mißbrauchen.

Die Kubaner haben ebenfalls die Werbung entdeckt. Sie haben zwar keine Meerjungfrau zur Verfügung, dafür aber eine echte Atomrakete. Vorsorglich entschärft und ohne Antriebssystem, überragt das riesige Ding seit Dienstag die Bucht von Havana. Das nukleare Macho-Symbol ist Bestandteil einer im Bau befindlichen Sozialismus-Verherrlichung, eines sogenannten „politisch-militärischen Parks“. Das aufgestellte Geschoß gehört zu der Sorte Atomraketen, die 1962 während der sogenannten Kubakrise auf der Karibikinsel installiert wurden. Damals verlangte John F. Kennedy den Rücktransport der von der UdSSR gelieferten weitreichenden Raketen sowie den Abbau der Abschußrampen, und verhängte eine Blockade gegen Kuba. Chruschtschow und Castro mußten nachgeben. Trotzdem soll die jetzt aufgestellte Rakete die „Unbeugsamkeit“ der Kubaner demonstrieren. Bleibt abzuwarten, wie lange das Volk diesen Blödsinn noch mitmacht. Karl Wegmann