Auch Ankara hat einen Heidepark

■ Projekt einer 8. Klasse über Zuwandererkinder an der Gesamtschule-West / Auf den Spuren der Multikultur

„Beeindruckt“: Integrationsstellenleiterin Dagmar Lill, „Wie vom Schlag getroffen von den Ergebnissen, die wir den Schülern nie zugetraut hätten“, so GSW- Schulleiter Klaus Wasum, und Herbert Wulfekuhl von der Landeszentrale für Politische Bildung meint: „Die Schüler haben mit Leben gefüllt, was kluge Menschen sonst über Multikultur immer so aufschreiben“ — weit weg von den Orten, an denen man mit dem Leben der Ausländer in unserer Gesellschaft in Berührung komme.

Doch diese Bemerkungen von „Offiziellen“ blieben Randerscheinung. Im Mittelpunkt der Pressekonferenz standen stattdessen die 18 SchülerInnen der Klasse 8c, die seit März vergangenen Jahres ein Unterrichtsprojekt über Zuwandererkinder an ihrer, der Gesamtschule-West, mitmachten. Dessen Ergebnis fanden besagte Offizielle so mustergültig, daß sie eine über 100 Seiten starke Broschüre daraus machten. Titel: „Unbekannte“. Das Heft wiederum soll jetzt anderen PädagogInnen Vorbild sein, sich mit ihren Klassen ähnlich neugierig und spurensuchend und dabei auch noch immensen Lehrstoff bewältigend auf das Fremde und die Fremden in ihrer Umgebung einzulassen.

Tolga Sökmen z.B., dessen Eltern Türken sind und der selbst in Bremen geboren wurde, befragte drei seiner insgesamt 89 türkischen MitschülerInnen. Einige von ihnen waren in der Türkei gewesen, danach wieder zurückgekehrt. Daß es in Ankara, der Heimatstadt seiner Mutter, auch einen Park gibt, der ähnlich wie der Heidepark ist — nur größer, erzählt einer von ihnen. Aber auch: Daß es dort „nicht nur schön“ ist, daß die Menschen „dort sehr in Angst“ leben, „keine Demokratie haben“ und sich „politisch nicht äußern dürfen“.

Die 13 bis 15jährigen hatten sich mit selbst erarbeiteten Fragebögen ihren 120 MitschülerInnen aus 12 Ländern genähert. Wie sie bzw. ihre Eltern sich ihre Zukunft vorstellen, wollten sie dabei genauso herausbekommen wie Informationen über ihre frühere Heimat — historisch, kulturell, politisch. Sie fragten auch, ob und wie sie deutsche FreundInnen gefunden haben und wie sie jetzt wohnen.

Eine Arbeitsgruppe versuchte dann auch, Kontakt zu einem Übergangswohnheim für Aus- und Übersiedler aufzunehmen. Die Kinder schilderten vor der Presse unbefangen, wie schwierig es war, im Behörden-Labyrinth einen hilfsbereiten Ansprechpartner zu finden. Andere SchülerInnen werteten Zeitungen aus, schnitten Radio- und Fernsehsendungen zu Ausländerfragen mit: „Ich wußte gar nicht, daß es im Radio solche Sendungen überhaupt gibt. Ich kannte nur Nachrichten“, erzählen Katja Czesla und Petra Baack.

Eine andere Gruppe tippte die Texte ab, wieder andere suchten die Illustrationen, fertigten Karten und Grafiken an. „Ich half nur bei der Materialbeschaffung“, stellt Klassenlehrerin Heidrun Eberle ihre Rolle dar. Sie betreute die SchülerInnen von der 5. bis zur jetzigen Abschlußklasse 10. „Nur dadurch konnten wir das Vertrauensverhältnis entwickeln, das für eine solche Arbeit nötig war“, betont sie. Auch sie habe in diesem Prozeß „gelernt“. Ohne die Projekterfahrung aus den vorangegangenen Schuljahren sei dies nicht möglich gewesen — zumal in der sehr heterogenen Gesamtschulklasse Analphabeten genau wie potentielle Gymnasialschüler vertreten sind.

Nach Folgen der Projektarbeit für den Alltag ihrer Schüler befragt, erzählt Klassenlehrerin Eberle von Schlüsselerlebnissen: Wie sehr ihre Schüler sich dafür eingesetzt hatten, daß türkische Mädchen weiter ihre Kopftücher tragen dürfen. „Als hier die Kopftuchfrage und ein entsprechendes Verbot diskutiert wurden, haben die Schüler dies als Bedrängung von sich selbst gefühlt.“ Auch in die laufende Diskussion darüber, ob türkische Mädchen vom gemeinsamen (koedukativen) Schwimmunterricht befreit werden können, wie es der Senat angeboten hat, haben sich ihre SchülerInnen vehement eingemischt. Eberle: „Als hier im Bezirk gefordert wurde, das Senatsangebot zurückzunehmen, haben sie nach Kompromissen gesucht. Sie wollen übereinstimmend, daß türkische Mädchen auch schwimmen lernen können. Für sie ist klar, daß die Mädchen dabei auch unter sich bleiben können müssen.“ ra

Die Broschüre „Unbekannte — Zuwandererkinder an unserer Schule“ ist zu beziehen über die Landeszentrale für politische Bildung oder die Bremische Zentralstelle für die Integration von Zugewanderten