Ein Text ist ein Text ist ein...

■ Robert Nuder macht nachts Reklame für Literatur / Er preist an, bietet feil, gewährt Einblick: „Die neue Lettre International ist da“ / Kneipendebatten im druckreifen Konjunktiv

Als er noch ein kleiner Junge war, las er Karl May. Am Ende des Weges durchs wilde Kurdistan traf er, siebzehnjährig, auf Camus und Sartre. Auch Henry Miller stand am Wegesrand und winkte. Adalbert hat er dagegen im Hochwald stiftengehen lassen. Die Leiden des jungen Werther haben ihn zu Tränen gerührt, Oscar Wilde hat nur ein Gähnen bei ihm provoziert. Die Bibliothek seines Vaters: ein großer Abenteuerspielplatz. Noch im minderjährigen Alter fand er, zwischen Goethe und Lessing versteckt, ein Buch über die Moulin Rouge und Toulouse-Lautrec. Er las es mit Interesse. Seine Eltern waren irritiert. Sein Name: Robert Nuder, vor 45 Jahren geboren in den Kärtener August, seit dem Jahre 1968 in Berlin. Seine Berufung: das Lesen.

Robert Nuder verkauft Abend für Abend Texte, hier »ein schönes Stück Literatur«, dort einen »bemerkenswerten Beitrag«. Man kennt ihn. Man erinnert sich: »Die 'Lettre International', die deutsche Ausgabe der europäischen Kulturzeitschrift, ist da!« Seine sonore Stimme sorgt beim Durchschreiten der Eingangstür für Aufsehen. Dann preist er an, bietet feil, gewährt Einblick. In seiner rechten Hand trägt er die Hefte, die die Welt enthalten. Dann wirbt er, nachdem er seine Brille einen Zentimeter nach unten geschoben hat, mit rollendem r und trockenem s für 100 Seiten Literatur. Etwa so: »Die unendliche Schwermut des Herzens. Ein Text von Michail Epstein über Rußlands Trübsinn.« Oder so: »Texte zur Krise am Golf. Ein Ägypter in Bagdad. Von Amitav Ghosh.« Er kennt jede Zeile, die er verkauft, hat alle Texte schon vor der Veröffentlichung gelesen. Er diskutiert mit den einen über den Urknall, mit den anderen über Brasilien. Sein Konjunktiv ist druckreif. Das Hilfsverb »würde« benützte er nie.

»Bald war ich bei diesen, bald bei jenen«, zitiert er Epicharmos. Seine Lehre als Buchhändler absolviert er zu Beginn der sechziger Jahre in Wien. Dann nach Berlin. Bei der Buchhandlung Schöller, damals noch am Kurfürstendamm, heute Knesebeckstraße, empfiehlt er Ende der Sechziger anderthalb Jahre lang Lesbares. Im selbstverwalteten Kreuzberger Gemüsekollektiv fühlt er sich anschließend über sechs Jahre wohler. Dann bringt er als Familienhelfer Lernbehinderten das Lesen bei. »Ich bin nicht seßhaft«, sagt er. Nun handelt er unter der Woche mit 'Lettre', samstags verkauft er auf dem Markt Kaffee aus Nicaragua. »Die Sandino Drrröhnung!« Immer noch? »Jetzt erst recht!«

Was er tut, kann er wie kein zweiter. Was er läßt, könnte er durchaus, er will es aber nicht. Im Café Einstein führte ein Immobilienmakler den Texthändler jüngst in Versuchung: »Bei mir machen sie monatlich 10.000 Mark!« Nicht, daß ihm das lukrative Angebot nicht schmeichelte. Allerdings: »Nun, es war an dem: Ich verwies auf das Objekt, mit dem man handelt und sich identifiziert.« Der Makler mußte nach einem anderen Kompagnon suchen. Zuvor kaufte er sich noch eine Ausgabe von 'Lettre International'.

Robert Nuder hat seit vier Jahren eine Tochter namens Emilia. Der liest er vor: Alice im Wunderland oder Pinocchio. Und zwar die Ursprungsfassungen, nicht die verstümmelten, angeblich kindgerechten Literatursubstrate. Überhaupt: ein professioneller Vorleser zu sein. Das wäre noch was.

Das Kind heißt Emilia wie Lessings Galotti. Der klassische Lessing ist das nicht, sondern der aufrührerische. Doch stopp: Mit dem deutschen Dichter hat der Name des Kindes gar nichts zu tun. Da geht es vielmehr um einen kleinen Ort an der französisch-italienischen Grenze namens Ventimiglia, um eine Urlaubsreise mit Martina und um ein Bahnabteil... Aber das ist eine ganz andere Geschichte. ccm