Die „Affaire Staatskanzlei“—ein einziger Sumpf

Der Verfassungsbruch des früheren hessischen Ex-Innenministers Milde ist nur die Spitze des Eisberges/ Hauptdarsteller der sogenannten Affaire Staatskanzlei ist Ministerpräsident Walter Wallmann/ Eine Schlüsselrolle spielen die Frankfurter Bordellbrüder Beker  ■ Von Klaus-Peter Klingelschmitt

Frankfurt (taz) — Der Vorsitzende des Untersuchungsausschusses „Affaire Staatskanzlei“ des hessischen Landtags, der Christdemokrat Helmut Lenz (59), bat die Obmänner der Parteien am Montag um Zurückhaltung. In Wahlkampfzeiten, sagte Lenz, neige der „homo politicus“ nämlich dazu, die sachliche Ebene der Auseinandersetzung zu verlassen und Scheingefechte für die Presse und damit für das Wahlvolk zu führen. Immerhin wird in Hessen am 20.Januar ein neuer Landtag gewählt — und die Protagonisten des Wiesbadener Schauspiels, in dem es nicht nur um die Aufklärung des Verfassungsbruchs von Ex-Innenminister Gottfried Milde (CDU) geht, stehen als Wahlkämpfer in vorderster politischer Front.

Doch die Sorgen des Ausschußvorsitzenden sind unbegründet. Draußen im Hessenland versteht kaum noch einer, warum vor dem Untersuchungsgremium die Landtagspolitiker von CDU und SPD auftreten (müssen), Staatsanwälte zu „Seilschaften“ befragt werden oder Journalisten Auskunft darüber geben sollen, wie sie in den Besitz bestimmter Informationen gelangt sind. Noch immer firmiert die „Affaire Staatskanzlei“ in der breiten Medienöffentlichkeit als „Affaire Milde“ — und die, so das Credo vor allem der Christdemokraten, habe schließlich mit dem Rücktritt des Innenministers Ende 1990 ihr Ende gefunden, wenn auch ein unrühmliches.

Dennoch hat sich die „Affaire Milde“ längst zum handfesten politischen Thriller mit „Barschel‘schen Dimensionen“ (Joschka Fischer/ Grüne) gemausert, dessen Hauptakteure Hersch und Chaim Beker heißen. Die Bordellbrüder Beker, denen die Staatsanwaltschaft Steuerhinterziehung im großen Stil, die Bildung einer kriminellen Vereinigung und die Organisation illegaler Glücksspiele vorwirft, zogen in den 70er und 80er Jahren in der Frankfurter Unterwelt mit die Fäden. Seit Anfang 1989 beschäftigt sich ein Sonderkommando „Organisierte Kiminalität“ (K 53) im Frankfurter Polizeipräsidium mit den Aktivitäten der Bekers. Auch das Hessische Landeskriminalamt und das Bundeskriminalamt bekamen den Auftrag, bestehende kriminelle Vereinigungen in Frankfurt zu zerschlagen.

Im Rahmen einer Großrazzia fanden die Fahnder in einer Villa der Bekers gleich bergeweise Unterlagen über dubiose Immobiliengeschäfte der Brüder mit Bediensteten der Stadt, darunter einen Briefwechsel zwischen dem Polizeipräsidenten und dem damaligen Oberbürgermeister Walter Wallmann. Die Bekers standen unter Hausarrest, ihre Spielhöllen wurden geschlossen, und in der inzwischen unter rot-grüner Administration stehenden Stadtverwaltung begann — auch wegen anderer Bestechungs- und Skandalgeschichten — ein Großreinemachen.

Beinahe zeitgleich schlidderte Ministerpräsident Wallmann in die sogenannte Tulpenzwiebelaffaire. Auf Staatskosten hatte er sich seinen privaten Hausgarten von einem Gärtner in Schuß halten lassen und auch eine Haushälterin beschäftigt. Darüberhinaus hatte Wallmann einen Mietzuschuß für repräsentativ genutzte Räume in seinem Privathaus klassiert — alles am Landesparlament vorbei vom Kabinett Wallmann beschlossen. Insgesamt 140.000 DM mußte er deshalb im Januar 1990 an das Land und die Stadt Frankfurt zurückzahlen.

Als Wallmann im Anschluß bei einer Pressekonferenz zum Thema „Tulpenzwiebelaffaire“ ungefragt erklärte, er kenne weder die Bordellbrüder Beker noch den mit ihnen liierten Immobilienmakler Buchmann, löste das bei den Journalisten nicht nur Verwunderung aus. Auch ‘Stern'-Redakteur Thomas Kettner begann, in Sachen Beker/Wallmann zu recherchieren.

Im Verlauf seiner Recherchen erhielt der ‘Stern' dann Hinweise auf ein Foto, das Wallmann zusammen mit den Brüdern Beker und dem Immobilienmakler Buchmann, der als eigentlicher Drahtzieher der Immobilienmafia vom Main gilt, zeigen soll. „Hohe Polizeibeamte“ hätten dann die Existenz eines anderen Fotos „andeutungsweise bestätigt“, meinte Kettner am vergangenen Montag vor dem Untersuchungsausschuß. Auf dem Bild seien Hersch Beker, dessen Freundin Evi, Walter Wallmann und ein V-Mann der Polizei mit dem Decknamen „Paule“ zu identifizieren. Bei der Razzia der Polizei in einer der Villen der Bekers war seinerzeit auch ein „Erinnerungsfoto“ Hersch Bekers gefunden worden, das den Unterweltkönig zeigt, wie ihm der damalige Bonner Regierungssprecher Hans Klein freundschaftlich den Arm auf die Schulter legt.

Aufgrund der erdrückenden Beweislast wurden die Gebrüder Beker Mitte Februar letzten Jahres verhaftet. Doch schon im April gelang dem U-Häftling Hersch Beker während eines Krankenhausaufenthalts unter spektakulären Umständen die Flucht. Der Bordellkönig entzog sich einer möglicherweise anstehenden Gerichtsverhandlung und setzte sich nach Israel ab. Sein Bruder Chaim, der auf ein ärztliches Attest hin von der Haft verschont wurde, tätigt in Frankfurt mittlerweile wieder Immobiliengeschäfte. Nach Hersch Bekers Flucht steht vor allem eine Frage zur Klärung an: Wurde ihm seine Flucht ermöglicht, um zu verhindern, daß er vor Gericht hochrangige Landes- und Kommunalpolitiker mit in den mafiosen Sumpf reißen könnte, aus dem die Bordellbrüder jahrelang ihre großen und kleinen Fische an Land zogen?

Eine Chance zur Vorabklärung dieser und anderer Fragen bekam der Journalist Kettner bereits am 30.Januar 1990, kurz vor der Verhaftung der Gebrüder Beker. Deren Rechtsanwalt Goetz nahm seinerzeit telefonisch Kontakt mit Kettner auf. Goetz bot ein Interview mit einem seiner Mandanten an — zum Preis von DM 150.000. Das Gespräch, in dem Goetz andeutete, daß Beker sowohl von seinen Beziehungen zum Ministerpräsidenten als auch über Geld- und Sachgeschenke an Politiker und Verwaltungsspitzen berichten könne, wurde im Auftrag der Staatsanwaltschaft vom BKA abgehört. Aus dem Geschäft mit dem ‘Stern' wurde dann doch nichts, weil der Vorgesetzte von Goetz, Kanzleileiter Schiller, dem Magazin mitteilte, Goetz sei nicht befugt gewesen, ein solches Angebot zu unterbreiten.

Als dann ausgerechnet die ‘Bild'- Zeitung den Beker-Chauffeur und V-Mann „Paule“ ins Spiel brachte, der bei einer polizeilichen Vernehmung angegeben haben soll, einen der Brüder Beker persönlich zum Privathaus von Walter Wallmann gefahren zu haben, müssen den Unionisten in der Staatskanzlei alle Sicherungen durchgebrannt sein. Nur Monate vor der Hessenwahl stand der Ministerpräsident und CDU-Spitzenkandidat unter schwerstem Medienbeschuß. Über Wallmann schwebte das Damoklesschwert einer falschen oder einer echten belastenden Aussage der Bekers über Art und Umfang ihrer Kontakte zu ihm.

In dieser Situation entschloß man sich in der Staatskanzlei zum Gegenangriff: Innenminister Milde bekam vom K 53 einen Aktenvermerk über das abgehörte Telefongespräch zwischen Goetz und Kettner zugespielt. Doch das, was Milde dann am 24.Oktober vor dem Landtag verlas, um die „politisch-journalistische Skrupellosigkeit“ derer offenzulegen, die seinen Ministerpräsidenten „fertigmachen“ wollten, war nichts anderes als eine „tendenziöse, objektiv verfälschende Verkürzung“ (Kettner) des tatsächlichen Gesprächsverlaufs. Über die Verletzung des Telefongeheimnisses hinaus handelte sich Milde den Vorwurf ein, mit seiner Einlassung, daß der ‘Stern' 150.000 DM für Informationen zum Sturz Wallmanns geboten habe, vor dem Landtag bewußt die Unwahrheit gesagt zu haben. Oder hatte Milde etwa ein um die entscheidenden Passagen gekürztes Protokoll erhalten?

Der Versuch, den „Schmierenjournalisten Kettner“ vor dem Untersuchungsausschuß an den Pranger zu stellen, wurde zum Bumerang für die Christdemokraten. Daß ausgerechnet der Rechtsanwalt des zurückgetretenen Ex-Innenministers Milde, der als Kämpfer gegen den Scheckbuchjournalismus in die hessische Geschichte eingehen wollte, selbst beim ‘Stern' die Hand aufhielt und Informationen über die Skandalfirma NTG verkaufen wollte, machte die Obmänner der Union im Ausschuß sprachlos.

In der ungeklärten Affaire Wallmann/Beker/Buchmann u.a. werden nach Kettners Auftritt vor dem Untersuchungsausschuß nun noch mehr Journalisten mit dicken Scheckbüchern recherchieren, als zuvor. Der, der das Foto mit Wallmann, Beker, Evi und „Paule“ auftreibt, dürfte finanziell ausgesorgt haben.