Nackter Wahnsinn

■ Uraufführung im Tanztheater: Johann Kresnik choreographierte Shakespeares „König Lear“

Warum Lear? Wegen Wahn, wegen Mord, wegen Gier? Weil da einer sein Reich wie einen Löffel abgibt? Weil Verfügte über Verfügte verfügen? Wegen allem und noch viel mehr. Würde Kresnik ja sonst nicht machen, der nicht nur genüßlich mit Bildern schnalzt, sondern auch an Großdeutschland wie an etwas Umnachtetes denkt. Was so einen Wüterich auf Bilder wie auf Barrikaden treibt.

Kann einem der Lear da grade recht sein? Was da alles passiert, das geht auf jeden Fall auf keine Kuhhaut. Bei Kresnik stammt die Kuhhaut ursprünglich vom Goldenen Kalb. Aber der Tanz ist schon vorbei. Ist schon ein Knechten und eine Endzeit, nicht mal mehr ein Torkeln mit Hinfallen. Da war mal ein Mensch, das ist jetzt ein Kriechtier. Und was leistet der Lear Parabulöses für Kresniks Großdeutschland bzw. die Ex-DDR? Er ist zuerst mal einer, der untüchtig ist. Ein seniler König aus untergegangener Zeit, der sich und sein Reich vorschnell an jene übergibt, die ihm schöntun, aber keine Obhut sind: seine bösen Töchter Goneril und Regan. Cordelia, die echt liebende Jüngste, geht leer aus. Das hat er davon: Seine Blindheit verurteilt ihn zum Untergang, der Machtverzicht wird bestraft. Eine monströs tödliche Geschichte. „König Lear“ bietet neben der machtpolitischen auch noch sexuelle Gewalt, den Inzest zwischen Vater und Tochter, und: Väter und Söhne; selbst schuld geht auch Graf Gloster zugrunde, der ebenfalls das Gute in seinem Sohn Edgar nicht erkennt und dem falschen Edmund, Bastard, traut. Was aus allem folgt, ist ein höllischer Erdenpfuhl aus nacktem Wahn und geiler Besessenheit, und endlich der Tod ist friedlich.

Kresnik und Shakespeare, das ist ein Paar wie Donner und Donner und ergibt eine Wucht von nicht mitteilbarer Erschütterung. Da zittern die Bilder, und wir halten den Atem an, ob sie nicht doch detonieren. Detonation verschafft aber Erleichterung, Erleichterung gilt aber nicht. Die Bühne ist eine Art Leichenhalle im Bunker, wahlweise Irrenhaus. Jedenfalls kommt hier niemand mehr heraus. Der Ausgang ist das weit offene Tor in den Tod. Niemand wundert, daß es dort schneit, kalt und friedlich. Und das Volk ist ein Vieh im Käfig. Seine Lage ändert sich nur, soweit sich der Schrecken ändert. Wenn Goneril und Regan das Reich übernehmen, zieht die Macht ihre Uniform an, werden aus den Eingepferchten Zertretene, am Boden noch Zuckende. Bei Edgar schließlich sind die Menschen nur noch faschistisches Bürokratenfutter. Immer sind sie gesichtslose Masse, mal watschelnde Säcke, mal mit einem Habseligkeitskoffer unterwegs in den nächsten Wahn neuer Herren und Frauen. Auch wenn die lächerlich sind, sind sie doch entsetzlich lächerlich. Dafür arbeiten sich Männer und Frauen nur noch ringend und jenseits der Unschuld aneinander ab. Und dann dieser Lear in seiner schwabbelnden Unterhose und mit der verdrehten Perücke, der sich im Wahn flagelliert, der geifernd seinen Töchtern nachstellt — ein widerliches armes Würstchen! Wie er sich nackt in einem Stahlquader windet! Das ist fast zuviel Erniedrigung für ein Publikum. Und Goneril und Regan, diese zwei schwankenden Schlingpflanzen! Zu Anfang beim neckischen Schaumschlagen noch in Petticoat und zirkuspferdchenlackrot, später aber in langen, schwarzen Schlauchkleidern, an denen kann mann ziehen und sie verknoten, ein Bild wie eine fleischfressende Pflanze, die die Augen lähmt. Die meisten seiner lebenden Bilder sind, wie immer bei Kresnik, aufdringlich und zugemutet. Und doch kann man den Blick nicht voll davon kriegen, weil man das doch liebt: die drastischen Überraschungen, das wütende Sehen. Aber diesmal ist da plötzlich ein Widerhaken, eine Art Deutungsunbehagen. Vielleicht ist man ein bißchen satt vom Achthaben der Botschaft. Vom Dechiffrieren der immer gezückten Warnung, daß es schon schlimm enden wird mit uns. Streckenweise übersetzt sich das nicht mehr, sondern zitiert sich selbst. Verstärkt von der Musik (Serge Weber), die einen zumeist attackiert mit einer Collage aus höchsten Tönen und schmerzlichem Getöse. Nichtsdestotrotz ein ganz starkes Stück. Das Publikum feierte die schwerstarbeitenden Tänzer, allen voran den Lear Harald Beutelstahl; nicht nur wegen der Exotik seiner 55 Jahre, sondern wegen seiner Präsenz in einer Rolle von erbarmungslosester Erbärmlichkeit. Zum ersten Mal vereinzeltes Buhrufen für Kresnik. Das klang stark nach Abo-Publikum. Claudia Kohlhase