72.049 exakt

■ Mein kleines Vorkriegs-Tagebuch 7.Folge

13. Januar

Bakteriologische Kriegsführung? Läßt sich der Kriegsschaden mit Hilfe von Viren begrenzen? Christian sublimiert Vorkriegsdruck: klebt aus Boulevardblättern hübsche Collagen. So im Schaffenswahn, daß er gar nicht mitkriegt, daß diese Periodika selbst schon Collagen sind. Hat sich dennoch beachtlich weiterentwickelt. Erst letzte Woche 'Bild‘- Zeitung entdeckt und und inzwischen auf Blutbadsektor weitergeforscht. Sein neuester Renner: die Münchner 'Abendzeitung‘. Dort also die Geschichte über die Computer-Viren. »Die Aufgabenstellung«, erklärt mir Christian, »in den irakischen Rechenzentren Computer-Viren abzusetzen, die die Programmdaten nachhaltig durcheinander bringen. Nichts läuft mehr. Rakenten verpassen ihr Ziel. Düsenjäger düsen in die falsche Richtung, ein Flugzeugträger wird als Ausflugsdampfer identifiziert...« — »und ein Kinderwagen als Hubschrauber. Mithin der Beweis, daß sich Hochtechnologie sehr wohl friedlich nutzen läßt«, ergänze ich. Doch ich bin skeptisch, bei aller Hoffnung. Aber vielleicht geschieht ja doch noch ein Wunder, und der 15. Januar findet nicht statt. Schlagzeile am kommenden Mittwoch: »Krieg verschoben. Hamburger Chaos Computer Club arbeitet für Hussein«.

Herbert hat mir seine neueste Erfindung vorgeführt: den Demonstrantenzähler. Herbert K. ist Altlinker und Elektroniker. Hat sich immer über das Wegtürken von Teilnehmerzahlen geärgert. Sitze also am Demo-Sonnabend mit ihm in enem gläsernen Touristenrestaurant-Vorbau auf dem Ku'damm. K. hat auf dem Dach Kamera installiert. Zwischen uns auf dem Tisch steht ein Rechner mit Monitor. K. erklärt: »Gemessen werden die Quer- und Längsreihen, verifiziert über die Diagonalenvermessung. Wenn die Bullen links und rechts am Demonstrationszug mitlaufen, werden die ausgezählt. Der Rechner erkennt sie daran, daß sie so idiotische Gänsemarschlinien bilden. Zählunschärfen kommen durch große Transparente auf. Habe ich aber aufgrund von statistischen Erhebungen bereinigt.« Verwundert sehe ich, wie sich das bunte, friedliche Protesttreiben auf dem Bildschirm in schwarze Punkte verwandelt. Ungeordnet fallen sie von links in den Bildschirm ein, werden zur Bildmitte elektronisch zu Reihen mit mehr oder weniger großen Lücken geordnet und kippen wie Halmafiguren über den rechten Bildrand wieder raus. Eine rechts unten aufwärts rasende Zahl gibt den aktuellen Stand an. Nach einer guten Stunde liegt das offizielle Endergebnis vor. 72.049 Demonstranten gegen einen Golfkrieg. »Damit sind wir mal wieder an der Fünfprozenthürde gescheitert«, seufzt Herbert K.

Schlagzeile: »Die Uhr läuft ab«. 'Bild‘: Wüsten-Soldat mit Gasmaske und Maschinenpistole sitzt in einem Zifferblatt. Die Zeiger stehen auf drei Minuten vor zwölf. Im Zeitalter digitaler Kriegsführung werden Gefühle mit Analoguhren erzeugt.

Später erzählt Herbert K. von einem amerikanischen Computerspiel-Fabrikanten. Er bietet den Golfkrieg als Software an. Die aktuellen Daten zum täglichen Stand des Krieges können über eine Datenleitung gekauft werden. Die Kids tüfteln dann zu Hause das günstigste Offensivszenario aus — und können ihre Ergebnisse an den Hersteller zurückschicken. Die besten Daten werden prämiert. Natürlich ist Herbert K. besorgt: »Es ist doch nicht auszuschließen, daß sich das Pentagon die produktive Phantasie der Kids zunutze macht.« Vielleicht nur noch eine Frage der Zeit, bis ein neunjähriger Oberst im amerikanischen Generalstab sitzt. Christel Ehlert-Weber