Elektronischer Turm von Babel im Irak

Bürgerdiplomaten planen am 15.Januar weltweites Brainstorming mittels „Fernsehbrücken“/ Die Frechheit der Verzweifelten zwischen Legende und Ultimatum  ■ Von Micky Remann

Läßt sich der Show-Down am Golf durch eine kreative Blitz-Offensive mit High-Tech-Kommunikation ersetzen? Eine Gruppe von globalen Bürgerdiplomaten möchte es zumindest nicht unversucht lassen. Für den 15.Januar, den Tag des Ablaufs des Ultimatums, planen sie ein weltweites, dezentrales Brainstorming, bei dem die Tiefenschichten des Golf- Konfliktes verhandelt werden sollen. Videoterminals in Moskau, New York, Paris, Tokio und im Irak sollen dafür sorgen, daß alle Pespektiven im globalen Dorf — nicht nur die militärischen — zur Sprache kommen. Alle reden vom Krieg. Was wäre, wenn sich alle dabei hören, sehen und im Rahmen von Mehrwegschaltungen miteinander kommunizieren könnten? Vielleicht ging es zu wie beim Turmbau zu Babel. Vielleicht ergeben sich jedoch Optionen für eine unkonventionelle Konfliktlösung.

Die Trümmer des alten Babylon liegen im heutigen Irak, 90 Kilometer südlich von Bagdad. Schon einmal hat dort ein Festival der Mißverständnisse stattgefunden, wie dem Alten Testament zu entnehmen ist. An diesem symbolträchtigen Ort möchte Joseph Goldin, 50jähriger Moskauer Futurist, den Hebel zum Durchbruch anlegen: „Was vor 4.000 Jahren schiefgegangen ist, muß diesmal klappen“, sagt Joseph Goldin, der sich zur Zeit in Paris aufhält, um im Wettlauf mit der Zeit den elektronischen „globalen Bürgergipfel“ zu organisieren. Der irakische UNESCO-Boschafter in Paris soll dem Projekt Unterstützung zugesichert haben, und nach Auskunft von Goldins Mitstreiter, dem Actuell-Redakteur Patrice van Eersel, haben New York und Moskau eine Teilnahme am Blitzkongreß über Video zugesagt. Mit Paris und Tokio werde noch verhandelt. Ob und welche Fernsehgesellschaften sich dabei engagieren, ist noch nicht bekannt. In einem Interview mit dem Pariser Korrespondent der Moskau News (A. Bangerskii), erläuterte Joseph Goldin das Ziel des Projektes: „Wenige Menschen sind sich bewußt, daß der Turm von Babel in dem Land stand, das heute Irak ist. Unser Projekt will die biblische Legende umkehren, indem wir eine gemeinsame Sprache finden für einen zeitgenössischen Turm von Babel. Ich schlage vor, drei Stunden vor Ablauf des Ultimatums am 15.Januar, ein Brainstorming der kollektiven Intelligenz des Planten zu veranstalten. Kreative Individuen und Gruppen von allen Kontinenten, aus Wissenschaft, Kultur, Wirtschaft und Religion kommen vor großen Videomonitoren zusammen und tauschen Ideen und Lösungsvorschläge aus. Hinzu kommen Telefon, Telefax und E-Mail- Kontakte. Mit den Mitteln moderner Telekommunikation spielt es keine Rolle, wo das Koordinationszentrum ist. Warum also nicht Babylon?“

Zusammen mit Musikbeiträgen soll diese Konferenzschaltung ein verlorengegangenes Gefühl von „Nähe über Entfernung“ vermitteln, um dem Konflikt außerhalb der Sieg- oder Niederlage-Logik auf den Grund zu gehen. Goldin: „Das Problem ist nicht nur die Konzentration von Waffen am Golf. Das Problem liegt in Palästina, in Moskau und in Südafrika, im Interessenkonflikt zwischen Politikern und Wirtschaftsprogrammen, zwischen Staaten und Staatssicherheit. Und das Problem liegt in der Verbitterung und Apathie der Bevölkerung.“

Die häufigste Frage, die Joseph Goldin und Patrice van Eersel zur Zeit gestellt wird, lautet: Wie realistisch ist das Ganze? Niemand bestreitet, daß es dem Babylon-Projekt an Management und Sponsoren fehlt. Seine Kraft — zwischen Legende und Ultimatum — liegt in der Frechheit der Verzweifelten. Im Moment scheint der Krieg sicherer als alles andere, betont van Eersel, „aber seit sich nach den Weihnachtsferien diese Aussicht verbreitet hat, wachen einige Leute langsam auf.“ Neben Demos, Petitionen und Flugblättern hält er Goldins Vorschlag immerhin für den originellsten. „Vielleicht wird es nicht das ganz große Ding, aber etwas wird es bestimmt geben.“

Der für seinen notorischen Mangel an Pessimismus bekannte Goldin verweist gerne auf seine Erfahrung mit Satellitenkontakten und Bürgerdiplomatie zwischen den USA und der UdSSR. Nicht zuletzt dank Goldins pionierhaftem Engagement fand die erste Fernsehbrücke zwischen Moskau und Kalifornien im Jahre 1983 statt. Damals, im Zeitalter von Breschnew und Afghanistan, war das genauso „unmöglich“, wie eine Mehrwegschaltung nach Babylon heute scheint. Trotzdem fand sie statt. Wo plant Joseph Goldin den 15.Januar zu verbringen? „Ich würde es vorziehen, in Babylon zu sein.“