Vom Friedensnobelpreisträger zum Totengräber der baltischen Freiheit

■ Der Einsatz der Truppen in Litauen kann nicht ohne Wissen Gorbatschows erfolgt sein/ Die publizistische Desinformation erinnert an alte, vergessen geglaubte Tage

In kaum verhüllter Form teilte Präsident Gorbatschow der UdSSR am Neujahrsabend mit, womit er sich im neuen Jahr hauptsächlich beschäftigen werde: mit der „Wahrung der staatlichen Einheit als heilige Pflicht“. Heilige Pflichten rechtfertigen heilige Kriege und damit jegliche Mittel. Und die, die sich ihrer bedienen, verlangen meist schon vorab das „Absolve“ vor der Geschichte. Doch das wird Gorbatschow diesmal nicht erhalten. Denn dies ist nur dem Erfolgreichen beschieden. Oder wie es Bismarck einmal formulierte: Wer Kriege führe, dürfe das Kriegsziel nicht aus den Augen verlieren und müsse an die Zeit danach denken. Doch genau das tut Gorbatschow nicht, wenn er jetzt dazu ausholt, das Riesenreich noch einmal mit aller Gewalt zusammenzuhalten. Der litauische Putsch ist der Anfang vom Ende des russisch-sowjetischen Imperialismus. Auch wenn dem noch ein Interim mit stahlharter Knute folgen sollte.

Wer heute noch glaubt, Gorbatschow hätte nichts von dem Vorgehen seiner in letzter Zeit hofierten Militärs gewußt, will sich partout nicht von dem Bild des einstmals „guten Diktators“ lösen. Nicht erst in jüngster Zeit deuteten seine Schritte in eine Richtung, die nichts mehr mit Angst vor seiner eigenen Courage zu tun hatten. Die Umbesetzung des Innenministeriums und das schnöde Fallenlassen Schewardnadses waren deutliche Zeichen. Anders als beim Massaker in Tbilissi vor zwei Jahren kann sich Gorbatschow heute nicht mehr damit herausreden, er wäre in London gewesen und hätte nichts gewußt. Das Säbelrasseln seiner Militärs und der konservativen „Sojus“-Gruppe hat er in den letzten Monaten unwidersprochen geduldet. Der zunehmenden Desinformation im Lande bot er keinen Einhalt.

Noch liegt keine offizielle Stellungnahme vor. Doch zu Denken gibt eine Äußerung seines Verteidigungsministers, Dimitrij Jasow. Gegenüber dem Premier Estlands, Saavisar, hatte Jasow noch am Vortage bekräftigt, Spezialeinheiten würden nicht in die nördliche Republik geschickt. Dem hielt Saavisar einen Anruf des sowjetischen Wehrkreisleiters General Kuzmin entgegen, der Tallinn mit dem Einsatz gedroht hatte. Sollten Fallschirmjäger da landen, so Jasow, dann sei das eine Provokation.

Was soll man davon halten? Weiß die eine Hand dort nicht, was die andere tut? Wohl kaum. Man hätte den Eindruck vermitteln können, die Schießereien in Vilnius seien aus dem Chaos entstanden, das von den Litauern angerichtet worden sei. Doch nicht einmal diesen Schein von Rechtfertigung hat man sich zugelegt. Dagegen sprechen die Fakten der letzten Tage eindeutig die Sprache eines großangelegten Täuschungsmanövers alten Stils. Unter dem Vorwand, renitente Rekruten einzuziehen, wurden Spezialeinheiten des Innenministeriums ins Baltikum transportiert, um dort eine Marionettenregierung Moskaus zu installieren. Den anderen beiden baltischen Republiken hatte man bewußt noch ein längeres Ultimatum gewährt — nicht zuletzt ein Versuch, einen Keil in die baltische Front zu treiben. Nun, nachdem das Exempel statuiert ist, mögen sie sich entscheiden! Die Panzer sind schon aufgefahren. Zuckerbrot oder Peitsche.

Doch die Führung hat nicht bedacht, daß er damit die anderen baltischen Republiken, die mit ihrer Kritik gegenüber dem radikalen Präsidenten Litauens, Vytautas Landsbergis, nicht hinterm Berg gehalten hatten, nun doch noch enger an die abtrünnige Republik bindet. Und auch Georgien und Armenien werden sich durch Gewalt nicht mehr von ihrem Sezessionskurs abbringen lassen. Wer das Sagen behalten will, ist nun in aller Klarheit deutlich geworden. Wozu da noch ein Unionsvertrag?

Das Täuschungsmanöver reicht noch weiter. Am Sonnabend tagte der neue, in seinen Kompetenzen erweiterte Föderationsrat, das höchste exekutive Gremium der UdSSR. Ihm gehören die Präsidenten aller Republiken an. Mit klarer Mehrheit äußerte er sich gegen den Einsatz von Gewalt, um den Konflikt im Baltikum beizulegen. Eine Kommission wurde gebildet, der auch der kürzlich gewählte nationalistische Präsident Armeniens und der Präsident Weißrußlands angehören. Am Samstag startete sie in Richtung Litauen, um die Situation dort in Augenschein zu nehmen. Offenkundig waren die Präsidenten im Föderationsrat nicht mit dem Bericht des Innenministers und Lettlandrussen Boris Pugow einverstanden, der die Rolle der Armee vor Ort heruntergespielt haben soll. Doch noch bevor die Kommission dort eintraf, hatte die Armee zugeschlagen. Diese Debrüskierung müßte ausreichen, um auch Boris Jelzin erkennen zu lassen, daß der Föderationsrat überspielt wurde. Denn die Russische Regierung verlangte Garantien, keine Gewalt anzuwenden und Gespräche mit den gewählten Regierungen aufzunehmen. „Das Präsidium gibt seiner Überzeugung Ausdruck, daß die baltischen Republiken nicht zu einer Arena des politischen Kampfes gemacht werden, zu einem Brückenkopf der Kräfte, die danach streben, eine Diktatur im Lande zu errichten.“ Parallel dazu hatte Boris Jelzin vorgestern noch in aller Eile einen Vertrag mit Estland abgeschlossen. Sowohl die RSFSR als auch Estland sind in dem Vertragstext zum ersten Mal als souveräne Staaten erwähnt worden. Die eindeutige Stellungnahme des Föderationsrates hatte zunächst bei den baltischen Vertretern noch Hoffnung auf eine Lösung des Konfliktes erweckt.

Doch diese ist jetzt verflogen. Ein Regime auf Bajonetten wird nicht lange durchhalten. Was nützt ihm ein vom Militär zusammengehaltenes Reich, das wirtschaftlich noch weiter kollabiert? Klaus-Helge Donath, Moskau