Brückenschläger zur Abstraktion

■ “Die Brücke“ in der Kunsthalle in Emden / Avantgarde des deutschen Expressionismus

Karl Schmidt-Rottluff, „Fischersonntag", 1923Foto: Beate Ramm

Grünblauer Himmel, grünblaues Gebüsch. Ein roter Weg bis zum Horizont wie ein Fluß aus Feuer. Dahinter ein rotes Bauernhaus:

hier bitte das Gemälde

Das Bild „Dorfecke“ von Karl Schmidt-Rottluff (1910), Teil der Ausstellung „Die Brücke“, zur Zeit vom Berliner Brücke-Mu

seum in die Emdener Kunsthalle umgezogen. Stellt die Betrachterin die Augen auf „unscharf“, sieht sie ein großes, rotes Farbdreieck, das von rechts in die Mitte des grünen Bildes ragt: eine Formkonstruktion aus den Komplementärfarben grün und rot. Ein typisches Beispiel für die Malerei von Schmidt-Rottluff: chromatische (ungebrochene) Farben in vergleichsweise klaren, fast geometrischen Formen.

Die Berliner Künstlervereinigung „Die Brücke“ (1905 bis 1913) machte sich im ersten Viertel unseres Jahrhunderts daran, die Kunst zu revolutionieren. Auch nach dem ersten Weltkrieg gehörten ihre Mitglieder zur Avantgarde des deutschen Expressionismus.

Unsere „modernen“ Augen sind durchaus in der Lage, die Bilder von Ernst-Ludwig Kirchner, Erich Heckel, Max Pechstein, Emil Nolde, Otto Mueller, ferner Cuno Amiet und Franz Nölken einfach schön zu finden. Damals aber, vor dem ersten Weltkrieg und danach, war ihr Experiment mutig, weil heftig umstritten. Denn die Maler der „Brücke“ rückten ab vom Abbild der Realität, wie übrigens auch die französischen „Wilden“ um Matisse, Rouault, Vlaminck und die Münchener Künstler des Blauen Reiter um Kandinsky, Marc und Münter in München. Wegbereiter waren beispielsweise Cezanne, Munch und Van Gogh, Vorbilder auch schwarzafrikanische Skulpturen und andere sogenannte „primitive“ Kunst.

Das Motiv wird Mittel zu zweierlei Zweck: Eine bestimmte innere Haltung zum Bildgegenstand oder ein Gefühl zur Wirklichkeit auszudrücken und dabei Farbmelodien und Formrhythmen zu transportieren.

Die Bilder der „Brücke“ sind offensichtlich nach „Verwandtschaften“ gehängt. Da ist beispielsweise, gleich neben der „Dorfecke“, das Bild „Tanz“ von Max Pechstein, auch eine Grün- Rot-Komposition. Zwei Tänzerinnen proben in einem eng erscheinenden, gründunklen Raum auf rotem Boden. Das weißspiegelnde Fenster läßt einen blauen Ausblick nur ahnen. Die eine Tänzerin, in fast circensischem Kostüm mit knielangen Volant- Hosen, roten Strümpfen und gelben Pompons auf den schwarzen Schuhen mit hohem Absatz, hält die andere bei den Händen. Die Gehaltene sucht ihr Gleichgewicht auf einem Bein stehend, den nackten, grünen Oberkörper horizontal herunterbeugt, ein Bein nach hinten ausgestreckt. Die beiden Figuren ziehen sich in einer Wellenbewegung über die Bildfläche und über sie hinaus. Ein Motiv, das an Toulouse-Lautrec erinnert. Das Grün und Gelb der Körper und das schwer wirkende Rot und Grün des Interieurs tauchen die Szene in bittere Melancholie.

Auch Ernst Ludwig Kirchner verbindet in seinen berühmten Straßenszenen und Frauenbildnissen die Kritik der gewohnten Wahrnehmung mit einer Kritik der Wirklichkeit. In seinem Bild „Berliner Straßenszene“ (1913) flanieren langgezogene, giftfarbene Karikaturen von feinen Herrschaften mit steifen Mänteln, riesigen Federhüten und versteinerten Gesichtern vor dem Hintergrund eines Gewimmels aus Pferdekutsche und anderen Passanten.

Wenn auch die gegenseitigen Befruchtungen der Künstler vor allem in der frühen Phase ihrer Zusammenarbeit offenkundig sind, so entwickelte doch jeder seine Bildsprache und Vorlieben. Bei Pechstein fallen - sowohl, was den Abstraktionsgrad als auch die Farbgebung angeht — die größere Nähe zur Natur und sein weicherer Pinselstrich auf. Otto Mueller bewahrte gar seine Liebe zu Erdfarben, zarten, schwarzen Konturen und engelsgleichen, geschlechtslosen Nymphchen am Wasser. Erich Heckel experimentierte zwischen weltuntergangsstürmischen Landschaften und lyrisch-erdverbundenen Kompositionen.

Gemeinsam ist den Brücke- Künstlern im Gegensatz zu ihren süddeutschen und französischen Mitstreitern, daß ihr Bedürfnis nach Ausdruck nie den Bildgegenstand so abstrahiert beziehungswiese zerstört, daß ein Wiedererkennen unmöglich wird. Sie verzerren, übersteigern, reduzieren auf das Wesentliche. Eine starke Ausstellung, die den experimentellen, suchenden Charakter der mutigen Künstlervereinigung und die unterschiedlichen Schaffensphasen der Künstler hervorhebt.

Beate Ramm

Noch bis zum 3. Februar in der Kunsthalle in Emden. Der Katalog ist leider vergriffen.