Logische Konsequenz eines Teufelskreises

■ »Radio 100« geht den Weg aller sich selbst ausbeutenden linken Projekte — in die Arme des Fremdkapitals

Berlin. »Radio 100« ist als Projektgescheitert. So heißt es überall im Zusammenhang mit dem nahenden Vertragsabschluß mit dem französischen Kapitalsender NRJ. Doch wer das Fazit von dreieinhalb Jahren Arbeit auf diesen einen Satz verkürzt, macht es sich zu einfach.

Ich kann sicher von meiner Warte aus umfassend nur die Geschehnisse in meiner alten Redaktion betrachten, habe aus meiner Position natürlich vieles unscharf oder auch verklärt wahrgenommen. Eins wurde jedoch besonders in den letzten Monaten offensichtlich: Die, die trotz lockender Angebote anderer Medien noch immer in den verqualmten, unordentlichen Räumen ausharrten, taten dies mit einer Verbissenheit, welche bei außenstehenden BeobachterInnen oftmals Verwunderung auslöste. Hundertmal und mehr wurde innerhalb der Aktuellen-Redaktion darüber diskutiert, ob man nicht aufgrund mangelnder bis fehlender Bezahlung die Arbeit einstellen oder doch zumindest die Ansprüche herunterfahren sollte. Keins von beidem ist letzlich passiert — denn selbst wenn das Programm erheblich »dünner« würde, die individuellen Ansprüche der einzelnen MitarbeiterInnen an ihre tägliche Produktion blieben bestehen.

Eben diese Ansprüche zogen aber einen tiefen Graben durch die Belegschaft. An »Radio 100« lassen sich grundlegende Konflikte verdeutlichen, die sich auch in anderen selbstverwalteten Projekten bereits zu Stolper- und Fallstricken entwickelten. Angetreten waren die InitiatorInnen mit dem Konzept der Gegenöffentlichkeit, mit dem Bedürfnis, das auszusprechen, was andere Medien vorenthalten. Nicht nur Ereignisse abzubilden, sondern Geschehnisse zu hinterfragen und in einen größeren, auch »weltpolitischen« Zusammenhang zu stellen. Man wollte dringend das so dringend nötige Sprachrohr der linken Bewegung sein, das die taz in den Augen vieler längst nicht mehr war.

Soweit die Theorie. Einer der größten Irrtümer war der Glaube, daß ein Sender mit sogenanntem linksalternativem Anpruch nicht genausoviel finanzielle Mittel im Rücken haben müsse wie ein konventioneller. Die fehlenden Finanzen wurden durch moralischen Druck kompensiert. Wer das Radio verließ, bevor die Schuldenwogen endgültig über seinem Kopf zusammenschlugen, entzog dem Sender nicht nur seine Arbeitskraft, sondern galt letztendlich als »Verräter der Bewegung«. Darin entlud sich die Bitterkeit derer, die weiterhin 50 Stunden in der Woche in ihren Redaktionen schufteten.

Auch inhaltlich zeigten sich schnell erhebliche Knackpunkte: Wer in diesem Sender journalistisch tätig war, mußte sich somit auch der Öffentlichkeit stellen — sei es »on air« oder bei der alltäglichen Rechereche. Die sogenannte »Szene«, aus der heraus das Radio entstand, war wegen ihrer eigenen Zersplitterung überhaupt nicht mehr in der Lage, dem Radio einen entsprechenden politischen Rückhalt, geschweige denn solide Einschaltquoten zu geben. Neben den politischen erwuchsen nun auch journalistischen Ansprüche — und dazu gehört eben auch eine differenzierte Recherche: Nicht mehr nur »draufhauen«, sondern sich mit allen Positionen und Argumenten auseinandersetzen. Hinzu kam der Anspruch an eine handwerkliche Professionalität — schließlich sollte das Radio »hörbar« sein. Der Graben war schnell unüberbrückbar: Auf der einen Seite die tagtäglich arbeitenden JournalistInnen mit dem Anspruch an eine umfassende Berichterstattung, auf der anderen Seite die Verfechter der reinen Lehre in Sachen Gegenöffentlichkeit, die linken TechnikerInnen und die sporadisch tätigen Redaktionsmitglieder. Immer wieder bröckelten Teile der Belegschaft ab. Für die einen war der Sender in der Konsequenz nicht radikal genug, die anderen sahen in dem Radio nicht mehr als einen »Durchlauferhitzer«, in dem sich zwar eine Menge lernen, aber nur wenig bis gar nichts verdienen läßt. Diese permanente Abwanderung wurde durch NeueinsteigerInnen kaum noch kompensiert — dazu war der bereits benannte Anspruch an die Qualifikation im Laufe der Zeit zu sehr gestiegen. Wer diesen Anforderungen genügte, konnte auch Arbeitsmöglichkeiten beim öffentlich-rechtlichen Rundfunk bekommen — dort wird der tägliche Streß wenigstens ausreichend mit Honoraren entgolten. Besonders problematisch wurde dieser personelle Ausdünnungsprozeß, als »Radio 100« im Herbst 1989 sein 24-Stunden-Programm startete.

Die Dagebliebenen — und nur ein geringer Teil davon tat dies etwa aus mangelnder Qualifikation — schweißte dieser Abwanderungsprozeß nur noch mehr zusammen. Dafür nahm man (fast) alles in Kauf: zerbrechende Beziehungen, Streß in der WG, chronischen Schlafmangel. Zumindest in den letzten Monaten war der Anspruch, ein »linkes, alternatives Radio« zu machen eigentlich nur noch abstrakt. Die Verpflichtungen waren vielmehr zusehends persönlicher Natur: Du kannst den Moderator nicht hängen, sprich: eine leere Sendung fahren lassen, Du kannst dem Redakteur, mit dem Du gestern noch die ganze Nacht in der Kneipe gesessen hast, nicht die ganze Arbeit allein zumuten — schließlich brummt dessen Schädel vermutlich nicht leiser als dein eigener. Die gute, alte, linke Selbstausbeutungsmentalität funktionierte bestens. Dieses Engagement wurde wie selbstverständlich erwartet — und sein Ausbleiben mit »Liebesentzug« bestraft. Dieser Mechanismus funktionierte lange Zeit so gut, daß der Sender sowohl über ein Standbein im Rathaus wie auch in der »Szene« verfügte. Einerseits hatte sich Radio Glasnost vor der Maueröffnung weit über Berlin hinaus einen Namen gemacht, andererseits vermutet die Berliner Polizei noch heute die eigentliche Kommandozentrale der sogenannten autonomen Szene in der Potsdamer Straße. Dennoch konnte das permanente Hinterherhecheln hinter dem eigenen Anspruch, verknüpft mit der unzulänglichen materiellen Ausstattung, nicht ohne persönliche und redaktionelle Folgen bleiben: individuelle Lähmung und Agonie, spürbar versickernde Diskussionen, lustlos recherchierte Beiträge. Daraus entstand wiederum eine Unzufriedenheit, die sich mitunter gegen die eigenen KollegInnen richtete. Ein Teufelskreis, den niemand durchbrechen konnte.

Daß der Sender nun einen Teil seiner Anteile verkauft, ist nicht mehr als eine logische Konsequenz dieses Teufelskreises. So gesehen ist das »links-alternative Radio 100« — mit allem Anspruch, der sich hinter dieser Bezeichnung verbirgt — nach dem Einstieg von NRJ gescheitert. Das Radio ist den Weg gegangen, den alle Projekte dieser Art wohl gehen müssen, solange Radiomachen ein solch kostspieliges Geschäft ist. Und trotzdem ist dieses Fazit zu einfach: Es ignoriert die Leute, die bewiesen haben, daß man trotzalledem gutes, engagiertes Radio machen kann. Martina Habersetzer, ehemalige Redakteurin bei Radio 100.