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Der männliche und der weibliche Fleiß in der Geschichte

Die Legende der Florence Nightingale (2. Teil)/ Die Sorge für den Körper als weiblicher Beruf, schlechthin als Lebenswerk/ Krankenhaus und Sozialarbeit begleiten als Domäne des Weiblichen, als permanente Reparaturanstalt, fortan das System der industriellen Produktion und Zerstörung  ■ Von Uta Ruge

Was Florence Nightingale und ihre 37 Pflegerinnen antrafen, war eine in ihr eigenes Kompetenzgerangel verstrickte Militäradministration, die sich ständig selbst ein Bein stellte und im Kampf mit sich selbst und unter Einhaltung britischer Höflichkeitsregeln im Schlamm des Bosporus und den Leichenbergen ihrer eigenen Soldaten zu versinken drohte. Allein von den britischen Truppen starben in dieser Zeit 18.000 Mann, und ein sehr viel höherer Prozentsatz von ihnen starb an Kälte, Unterernährung und Cholera und nicht etwa an ihren Kriegsverletzungen.

Den Tausenden, die in den kilometerlangen Fluren der zum Krankenhaus umfunktionierten Kasernenfestung von Scutari im eigenen Dreck eingingen, wo der Gestank von Fäkalien und verrottendem Fleisch noch lange an den Wänden kleben sollte, boten die Frauen, die das erste Mal in offiziellem Auftrag bei der Armee tätig wurden, einen Anflug von Sauberkeit, eßbarer Kost und frischer Wäsche.

Und Florence Nighingale dirigierte sie. Nach einem Monat schrieb sie in einem ihrer unzähligen Briefe an den Kriegsminister am 10.Dezember 1854: „Was wir als bewirkt betrachten können ist: 1. die Küche für Extradiäten für das Hospital, jetzt voll in Betrieb, mit regelmäßigen Extradiät-Listen von den Stationsärzten — 2. gründliches und häufiges Putzen, Fegen und Scheuern — die Bürsten, Besen und Lappen sind von uns gestellt, nicht aus der Effektenkammer —, 3.200 Hemden, Baumwolle und Flannel, Ausgabe und Wäsche organisiert und seit einer Woche durchgeführt — 4. Entbindungsstation eingeführt — 5. den Witwen und Soldatenfrauen geholfen — 6. viel tägliches Bindenwechseln und Versorgung von Knochenbrüchen durch unsere erfahrensten Schwestern — 7. Kontrolle und Verbesserung der gesamten Maschinerie bei voller Unterstützung durch das verantwortliche Corps der medizinischen Offiziere...“

Die Liste ist noch weitaus länger und beeindruckend, wenn man bedenkt, daß drei Wochen vorher ein Bad alle 80 Tage für 2.300 Männer reichen mußte, die zudem alle mit dem gleichen Schwamm gewaschen wurden. Die „8 Kilometer Betten und zwischen ihnen keine 50 Zentimeter Platz“, in denen Verwundete und Sterbende mit „Fieber, Cholera, Gangräne, Läusen, Wanzen (und) Flöhen“ lagen, ging Florence Nightingale täglich inspizierend ab, um zu kontrollieren, ob ihre Anweisungen befolgt worden waren. (Daß dieser Gang durch das Hospital — mit der legendären Lampe in der Hand — eine solche Berühmtheit erlangen konnte, hatte sicher nicht wenig damit zu tun, daß vorher in den am schlimmsten von Cholera befallenen Stationen kein Arzt sich mehr blicken ließ.)

Wenn man die Berichte von Scutari liest, kann man nur staunen über das, was vorher nicht bedacht und auch, als die Katastrophe schon sichtbar war, nicht arrangiert wurde. Es kommt einem so vor, als hätte kein Mensch überhaupt etwas anderes tun können als das, was Florence Nightingale tat. Aber es tat kein anderer. Auch dafür wurde sie zu einer — den Verantwortlichen höchst unwillkommenen — Zeugin, die gesehen hatte, was in der Realität — und selbst in den Büchern — ihrer Klasse und ihres Geschlechts nicht vorkommen durfte.

Die Zeit war reif für einen „weiblichen“ Christus

Mit dieser Erfahrung vom Ausmaß der bereits geahnten „Krankheit der Welt“ machte sie sich auf in die Emanzipation. Über ihre Mutter und Schwester hatte sie geschrieben, sie seien „wie Kinder, die am Ufer des 18.Jahrhunderts spielen“. Sie aber hatte gemerkt, daß das neue Jahrhundert reif war für einen „weiblichen Christus“ (Cassandra) — und das war natürlich sie selbst.

Nach dem konsolidierenden Sieg von Waterloo geriet das Elend der heimischen Massen, die die Rohstoffe der Kolonien in der zur Industrie sich wandelnden Wirtschaft zu verarbeiten hatten, in den Blick der herrschenden Klasse — das heißt ihrer Frauen vor allem. Die humanitäre Bewegung, sowohl religiös als auch freidenkerisch motiviert, die sich am Anfang des Jahrhunderts vor allem in Amerika aber auch in England gebildet hatte, setzte sich vor allem für die Abschaffung des Sklavenhandels ein; und über die Entdeckung des Sklaven als Menschen mußte dann auch die des Arbeiters und der Frau als Menschen logisch konzipiert werden.

Die überall enstehenden philanthropischen Gesellschaften und Vereine zogen Frauen an, die in ihnen nicht nur geduldet, sondern sogar erwünscht waren; dabei ging es zwar nicht immer nur um ihr eigenes Mensch-Sein, sondern auch um das Geld, an das sie durch Väter und Ehemänner vielleicht herankommen konnten, aber immerhin konnten sie sich und ihrem wohltätigen Menschentum an diesem gesellschaftlichen Ort Ausdruck verleihen.

Und während die ebenfalls in dieser Zeit sich formenden Gewerkschaften in England um den Zehn- Stunden-Tag kämpften, besuchten die energischeren der in schwarze Seidenkleider und Krinolin gehüllten Damen die Armen- und Arbeitshäuser, die Sonntagsschulen und Cottages derjenigen, deren Not durch die miesen Bedingungen in den Bergwerken und Textilwebereien, den Hafenanlagen und Werkzeughallen (der Väter und Brüder dieser Damen) hervorgerufen war.

Der viktorianische Gott forderte von ihnen nicht so sehr das Einklagen eigener Rechte — und Lüste und Freiheit zur Rebellion — als die Wohltat für die Armen und Unterdrückten, für den „Patienten Welt“. Daß Louisa Twining, Mary Carpenter und Baroness Burdett-Coutts mit ihren wohltätigen Taten und Vereinen sowohl am Anfang der Armengesetzgebung in Großbritannien als auch am Beginn seiner bürgerlichen Frauenbewegung stehen, zeigt eine böse Verstrickung an: daß die Frauen Menschen sein dürfen, weil sie die besseren Menschen sind.

In dieser Verstrickung bewegte sich auch Florence Nightingale mit dem, was sie schließlich schaffen sollte: die Sorge für den Körper als weiblichen Beruf schlechthin. Sie ging darin an gegen das Tabu weiblicher Berufstätigkeit, — aber sie machte dabei das zur Industrie, an dem sie selber in der Unterordnung unter die Familie so sehr gelitten hatte: die Verpflichtung zur Aufmerksamkeit für die Belange der anderen.

Das Element des Weiblichen geht in Serie

Auch im Krim-Krieg schon befaßte sie sich allerdings nicht eher mit Einzelnen und Einzelheiten, solange sich in ihnen nicht ein Symptom für das Ganze ausdrückte. Dem Chaos, das Krieg und Industrie systematisch an Leib und Seele für die meisten Menschen kreierten, setzte die in Beobachtung und Statistik gleichermaßen Interessierte den Herrschaftsanspruch der Maßnahme entgegen, die aufs Ganze ging. Als nicht nur willensstarke und organisationsfähige, sondern auch mit Wohltätigkeitsgeldern ausgestattete Frau konnte sie durchsetzen, was der rührenden Lichtgestalt ihrer Legende nie gelungen wäre. Ihre Arbeit half Tausenden — und konnte damit zur Legende für Millionen werden.

Der Mythos von ihrer Güte und Barmherzigkeit, der den Kern ihrer Anstrengung von vornherein verfehlt, wird von der heimischen Presse dankbar aufgegriffen und multipliziert. Denn mit „richtigen“ Helden kann man nach diesem Krieg nicht mehr dienen. Der in Serie gegebene Mann, der Soldat des Stellungskrieges, und der an den „production lines“ der Industrie taugt zum Helden nicht mehr und wird für einen kurzen historischen Moment von der Heldin abgelöst — bis am Ende schließlich auch das Element des Weiblichen in Serie gegeben ist. Krankenhaus- und Sozialarbeit werden zum Zeichen der Zeit und begleiten als Domäne des Weiblichen, als permanente Reparaturanstalt von jetzt an das System der industriellen Produktion und Zerstörung.

Die Mutter der toten Kinder

Nach dem Ende des Krieges (1856) und ihrer neugefundenen Aufgabe sofort wieder beraubt, mußte Florence Nightingale das Problem ihrer eigenen Position im Familienkosmos noch einmal in Angriff nehmen, mußte vermeiden, sich als ohnmächtige Tochter ihres Vaters wiederzufinden. In einer Notiz von 1857 heißt es: „Vermutlich ist kein Wort wahr an der Geschichte von der jungfräulichen Mutter... Was ist leibliche Mutterschaft? Ein hübsches Mädchen trifft einen Mann und sie heiraten. Gibt es darin auch nur einen Gedanken an Kinder? Die Kinder kommen, ohne daß sie selbst darüber beschlossen hätten, denn das kann nun einmal nicht verhindert werden... Für meine 18.000 Kinder habe ich mehr mütterliche Gefühle und Taten in einer Woche aufgebracht, als meine Mutter für mich in 37 Jahren.“

Der Krieg also hat ihr 18.000 tote Kinder geschenkt und sie umgehend zu einer besseren — weil jungfräulichen, also berufenen — Mutter gemacht, als ihre eigene Mutter jemals gewesen ist. Durch ihre Legende wird ihr ein Bild zur Verfügung gestellt, das sich als einziges Frauenbild einfügt in das bestehende Herrschaftsgefüge von Kirche und Kapitalismus der Epoche — und mit dem sie gleichzeitig private Resentiments aufrechterhalten kann. Es führt sie aus der verhaßten töchterlichen Ohnmacht heraus und in die begehrte Position der mütterlichen Dominanz, ohne Umwege und persönliche Unterwerfung. Dies war, so scheint es, Florence Nightingales Königsweg aus der Peinlichkeit weiblicher Radikalität, denn in den Karikaturen der Zeit war tatsächlich die herrschsüchtige alte Jungfer als Gestalt der weiblichen Emanzipation schon ein fest etablierter Topos des Lächerlichen geworden.

Die Ambivalenz von persönlicher Rebellion und ideologischer Unterwerfung, in der die ersten Frauenrechtlerinnen sich wider Willen bewegten, führte oft nicht nur zu bizarren religiösen Rechtfertigungen, sondern auch zu einer recht bizarren Existenz — so auch bei ihr. Zurückgekehrt aus dem Krieg nämlich legte sich Florence Nightingale auf ihr Sterbebett, von dem sie in den über 50 Lebensjahren, die ihr noch bleiben sollten, nur selten aufstand.

Spätestens an dieser Stelle ihrer Biographie fallen in der Geschichtsschreibung Schatten auf ihre Lichtgestalt. Schon ihr allererster Biograph Sir Edward Cook (1913), als nächster Lytton Strachey (1918) und später vor allem F.B. Smith (1982) zeigen sich verstört bis zur Empörung über ihre herrische, nichts Krankes und nichts Gesundes duldende Eminenz moralischer Überheblichkeit, zu der die 37jährige sich macht.

Eine skurrile und entnervend hartnäckige Ratgeberin

Knapp zwanzig Jahre lang wird sie sich jetzt vom Bett aus, an dem sie nur ausgewählte Besucher und jeden ohne Zeugen empfängt, einmischen in alle Reformen der Armee, von Gesundheitswesen und Krankenhausbau, sich sorgen um die Kanalisation von Abwässern und die Bewässerung der Felder in Indien, um den Kampf gegen Geschlechtskrankheiten und die Tagespläne richtiger Krankenbetreuung. Nichts ist ihr zu klein, und schon gar nichts zu groß, als daß sie nicht die Stimme ihrer Autorität erhebt — um am Ende für eine neue Generation von Politikern und Beamten zu einer eher skurillen, wenn auch entnervend hartnäckigen Ratgeberin zu werden, deren Anmerkungspapiere, Berichte und Statistiken schließlich ungelesen in die Ablagen wandern.

Bis weit in ihr fünftes Lebensjahrzehnt hinein jedoch ist sie die große Intrigantin im Hintergrund, die durch eine Legende zum Machtfaktor gewordene Frau, für die Männer vor allem zu Soldaten-Patienten und kindisch-unfähigen Administratoren wurden. Wenn sentimentale Bewunderer-Söhne, die sie mit verkitschten Zügen ausgestattet und sich in ihren Dienst gestellt hatten, sich von ihr bis zur völligen Erschöpfung — und im berühmt gewordenen Fall des Kriegsministers Herbert, der totkrank auf ihr Geheiß sein Ministerium reformieren sollte, bis in den Tod — treiben ließen, so schien das, was sie betraf, ganz in Ordnung zu sein.

Schließlich ging es ja nicht um sie selbst, die — wie sie nicht müde wurde, zu betonen — todkrank war und sich mit letzter Anstrengung nur dem Vermächtnis der toten Soldaten widmete. Die schmerzliche Zurückweisung durch ihre Eltern und der fünfzehn Jahre dauernde Kampf, den Bruch mit ihnen und ihrer Klasse zu vermeiden, hatten sie gelehrt, nichts

für sich selbst und ohne Vorschieben von anderen für sich zu fordern. Vielmehr also ging es um Tausende, denen aus Dunkelheit und Not geholfen werden mußte. Und je mehr sie überall entdecken konnte — in den Militärbarracken, den Armenhäusern, in Indien —, desto heller schien ihr Licht, desto herrischer forderte sie von anderen, keine Müdigkeit vorzuschützen und zu Hilfe zu kommen, und zwar so, wie sie diese Hilfe definierte, — und das war vor allem eine Hygienisierung des Lebensstils.

Das Krankenzimmer, in dem sie lebte, war dabei genau das, was sie brauchte. Es bot die Überschaubarkeit, die in der Welt draußen so schnell verlorenging, es bot die Abgeschiedenheit und Isolation, in der selbst eine Frau ihrer Klasse ungestört und ohne Ablenkung durch Geselligkeitsverpflichtungen etwas konzentriert verfolgen konnte — eine Berufstätigkeit durch die Hintertür —, und es verschaffte ihr, was vielleicht das Wichtigste war, Abstand von ihrer Familie, deren Mitglieder ebenso um Audienz zu bitten hatten wie alle anderen. Sie hatte durch diesen Meisterstreich eine Welt für sich kreiert, wie sie ansonsten nur Männern zustand.

Ihr Denken konnte sich auf diese Weise unabgelenkt den grundsätzlichen Elementen, den Prinzipien des Lebens widmen, auf den Gesellschaft nur verwiesen ist, wenn es um den Umgang mit Kranken geht: Wärme, Licht, Nahrung, Ausscheidung, Sauberkeit, Schlaf, Kampf gegen Schmerz. Nur scheinbar ist das eine kleine Welt. Man muß nur an die Millionen denken, für die alles dies, der Kampf um das Überleben, schon das ganze Leben ausmacht.

Indem sie sich selbst und die ganze Welt zur Patientin macht, können Aggression und Lust am Herrschen als das andere — eigentliche? — Prinzip verschwiegen und heimlich zur gottgefälligen Tat werden.

Florence Nightingale wurde nicht zur Volkstribunin und nicht zur „Emanzipierten“, sondern sie arbeitete als, man könnte sagen, unbestellte und unbezahlte Staatssekretärin und Beraterin für Ministerien und Kommissionen. Ihre Aufmerksamkeit erstreckte sich ebenso auf eine geschickte Personalpolitik und Öffentlichkeitsarbeit wie auch die tatsächlichen Gegenstände ihrer Arbeit: Gesundheitswesen in der Armee, Krankenhausbauten, Krankenpflege, sanitäre Anlagen und Kanalisation in Indien, Arbeitshäuser, stationäre Entbindung und Gemeindefürsorge. Alles das war noch in den Anfängen. Sie entwarf Fragebögen, sammelte Ergebnisse und schrieb Berichte mit ausführlichen statistischen Angaben. Sie machte Vorschläge und beschrieb die praktische Durchführung minutiös in Memoranden und Broschüren.

Endlose und unzählige Briefe gingen an Staatssekretäre und Minister, Generäle und hohe Verwaltungsbeamte. Und wenn die Dinge nicht so liefen, wie sie sich das gedacht hatte, ließ sie schon mal auf eigene Kosten Berichte drucken, die sie an ausgewählte Politiker und Kleriker schickte, um öffentlichen Druck zu machen, schrieb Artikel für Zeitungen und bestürmte ihre im Regierungsapparat gut plazierten Freunde und Verwandte. Sie konnte alle Register der Manipulation ziehen und sich im letzten Moment noch auf ihre Legende verlassen, die sie zwar selten, aber dann in strategisch wichtigen Momenten als drohende Skandalpotenz aus dem Ärmel zog.

Für die praktische Abwicklung ihrer Geschäfte benutzte — und verbrauchte — sie Sekretäre und Zuträger, Freunde und Bewunderer. Ihre praktische Intelligenz paarte sich mit einer enormen Kapazität für Arbeit, und wer ein normales Leben lebte, neben seinem Amt noch Familie und Vergnügungen haben wollte, setzte sich unweigerlich ihrer ätzenden Kritik aus.

Frauen wurden von ihr nur wenige in diesen Kreis gezogen; sie waren für ihre Zwecke nicht recht brauchbar. Sie hatten keine Ämter inne und verschleuderten ihre Energien hartnäckig weiter an den „schmutzigen, ekelhaften Fetisch Familie“, ließen sich von allem Eigenen abhalten, um sich dem „langsamen Mord“ durch das beständige Da-sein-müssen-für-andere auszuliefern.

Im „Dasein für andere“ aber war sie die Expertin: es gehörte dazu eine Qualifikation, möglichst mit Ausbildung und endlich auch Bezahlung, denn richtige Hilfe war keine Frage der Aufopferung sondern der Organisation — selbst was die zartesten Bindungen anging. Die Schriftstellerin Elizabeth Gaskell hatte sie als sehr junge Frau schon eimal mit ihrer Aussage zutiefst erschreckt, daß, wenn es nach ihr ginge, kein Kind bei seiner Mutter aufwachsen solle, sondern in — gut geführten! — Krippen.

Was „die Frauen“ und ihre angeblich größere Mitleids- und Hilfsfähigkeit anging, hatte die verbitterte Schwester und Tochter ab und zu scharfe Worte übrig: „Wenn ich ein Buch über meine Erfahrungen schreiben würde, müßte ich beginnen mit dem Satz: Frauen haben kein Mitleid. ... (Sie) gieren danach, geliebt zu werden, nicht zu lieben. Sie greinen dich den ganzen Tag um Anteilnahme an und sind doch unfähig, auch nur ein winziges bißchen davon zurückzugeben, denn sie sind nicht in der Lage, deine Angelegenheiten dafür überhaupt lange genug in ihren Köpfen zu behalten.“

Und dennoch: Wenn es um die Enttäuschungen ging, die sich hier aussprechen, brauchte sie Frauen. In einer Unmenge von Briefen an Freundinnen, die zumeist in sicherer Entfernung lebten, konnte die misantropische Reformerin intime Gespräche führen und sich beklagen über die Indolenz ihrer Umgebung. Und wenn ihre Freundinnen sie in aller Aufrichtigkeit bedauerten, paßten sie dabei doch höllisch auf, nicht selber in den Sog ihrer endlosen Anforderungen zu geraten.

Auch was ansonsten in der medizinischen Welt sich tat, ließ sie zunehmend verbittern. Die Entdeckung von Viren als Krankheitsauslöser und Ansteckung als Verbreitungsgrund gefielen ihr überhaupt nicht. Sie sah darin nur die Gefahr, daß man sich auf Ärzte und ihre „Zauberkünste“ verließ, anstatt sich der Sorge und Aufwendigkeit einer qualifizierten Krankenpflege zu widmen. Der Kampf von Elizabeth Garret Anderson um eine ärztliche Ausbildung von Frauen entlockte ihr zahllose Schmähbriefe. Hatte diese in Amerika ausgebildete Ärztin nicht etwa gewagt, die Krankenpflege als Domestikenberuf zu disqualifizieren? Und hieß das nicht alle Hoffnungen im Keim schon ersticken, daß jemals gebildete Frauen sich für diesen Beruf interessieren würden?

Natürlich stieß sie sich nicht nur daran. Die Krankenpflege selbst und die Frauen, die sich davon begeistern ließen — oft genug aus religiösen Motiven, was Florence Nightingale verabscheute — machten ihr Kummer.

Die Nightingale-Schule für Krankenpflege wurde 1860 gegründet. Sie selbst hatte jahrelang wenig Interesse daran gezeigt, und erst als ihre Macht in den Ministerien langsam schwand, entdeckte sie die Schule als ihr Lebenswerk. Was sie dort zunächst an Mißstand und Inkompetenz, aber auch an hartnäckigem Widerstand gegen ihre autoritäre Methode erfuhr, ließ sie oft verzweifeln. Die Ironie der Situation war ja, daß bei allem Bestehen auf Ausbildung und bezahlter Berufstätigkeit sie selbst die einzige war, die weder ausgebildet noch bezahlt — d.h. abhängig — berufstätig war. Sie lebte weiter von den 500 Pfund Jahresrente, die ihr Vater ihr ausgesetzt hatte.

Die Kompromisse und Mißbräuche, denen die Ausbilderinnen und Schülerinnen in den Krankenhäusern ausgesetzt waren, waren ihr fremd und machten in ihren Augen gleich die ganze Idee zunichte. Es dauerte lange und wurde sogar zum Teil gegen den Widerstand von Florence Nightingale durchgekämpft, bis Krankenschwester als anerkannter Beruf in Großbritannien existierte und in Schulen gelehrt werden konnte.

Das weibliche Kümmern als Industrie hatte nicht nur die Religion als permanente Beischläferin abzuschütteln, sondern auch seine exzentrische Pionierin. Nicht zu unrecht war diese davon überzeugt, daß all ihre Arbeit zu nichts führte und am Ende nur Kompromisse und Halbherzigkeiten erreicht wurden. Das Ungeheuer der Reform und ihrer Endlosigkeit hatte sie, wie alle Reformer des 19.Jahrhunderts, geschluckt — und mit dem monströsen Raum seines Körpers den Rest der Welt verdeckt, die ungestört weiter nach anderen Regeln funktionierte, im Kleinen und im Großen.

Florence Nightingale: Tochter und Greisin

Auch wenn neuere Biographien Zweifel an ihrem Kranksein anmelden, bleibt es doch vorstellbar, daß Schlaflosigkeit, Herzstörungen, Rheuma und die Unfähigkeit zur Nahrungsaufnahme neben immer wiederkehrenden Depressionen das Krankheitsbild dieser Frau ausgemacht haben könnten.

Das entscheidende Problem ihres Lebens, dem sie weder mit Fragebögen noch mit Statistiken oder Memoranden beikommen konnte, war und blieb ihre Familie. Vater, Mutter und Schwester wollen nicht begreifen, daß sie Abstand halten müssen, daß Florence ihre Nähe nicht mehr ertragen kann. Sie bedrängen sie immer wieder, ihre Gesundheit doch zu schonen und zu ihnen aufs Land zu kommen oder in London gesellige Abende mit ihr zu verbringen.

Wann immer sie dem einmal nachkommt, einmal im Jahr und auch jahrelang gar nicht, gerät sie in tiefste Depressionen. In den meisten Fällen jedoch kommen Mutter und Schwester nach London und belagern sie dort. Sie haben sich Visitenkarten drucken lassen mit dem Hinweis auf ihre verwandtschaftliche Beziehung zur „Heldin von der Krim“ und erwarten, an dem Strom ihrer gewiß ganz illustren Besucher irgendwie gesellschaftlich teilhaben zu können.

Und zwei Jahrzehnte später, als ihre Mutter krank und invalid und ihr Vater unfähig geworden ist, den Besitz effektiv zu verwalten, bleibt der unverheirateten, 50jährigen Tochter des Hauses nichts anderes übrig, als sich monatelang um deren Versorgung und Geschäfte zu kümmern. (Übrigens sollte dieser nicht unbeträchtliche Besitz an einen anderen Zweig der Familie fallen. Parthe und Florence waren nicht erbberechtigt, da Besitz an Grund und Boden politische Rechte beinhaltete, von denen Frauen ausgeschlossen waren.)

In einer privaten Notiz spricht sie aus, was ihr den schönen heimischen Landsitz der Familie so viel unerträglicher macht als aller Dreck und alle Katastrophe des Krieges: „Oh, zurückgeworfen zu sein in dieses stagnierende, kleinliche Leben von Embley, das so vieles vom Besten, mit dem ich mein Leben begann, getötet hat. Ich müßte mich selber hassen (ich hasse mich selber), aber ich müßte mich VERFLUCHEN, oh mein Gott, wenn ich es genösse, darin ,Frieden‘ finden könnte. Glücklicherweise gibt es darin keinen Frieden, nur eine ständig zunehmende Unruhe.“

Nicht nur das Kleinkarierte und Erstickende ist so unerträglich, sondern auch die bedrohliche Möglichkeit, Ruhe und Selbstvergessenheit des Ortes, des eigenen gesellschaftlichen Status, zu genießen. Hieße das denn etwa nicht, alles andere zu vergessen? Da aber sei der viktorianische Gott vor — die Moral, die Arbeit, die Politik! Und das einzige, was er ihr läßt, wenn sie schon der allesverpflichtenden Existenz als Tochter sich entzogen hat, ist ja tatsächlich nur das.

Erst als alle tot sind, ihre Mutter schließlich 92jährig stirbt, beginnt Florence Nightingale Ruhe und Untätigkeit und die Gesellschaft anderer um sich herum zu genießen. 60 Jahre ist sie geworden, bevor sie sich in Freundschaften und dem Familenleben ihrer Nichten und Neffen bewegen kann. Endlich lebt sie ohne den Kampf um die Dominanz, der ein Kampf gegen das Tochtersein gewesen war, eine endlose Arbeit an der Institutionalisierung des weiblichen Kümmerns, das am Ende die Frauen hätte freimachen sollen für sich selbst...

Erst nach vielen Jahren, die sie mit Charme, Zärtlichkeit und Milde verlebt — der Indian Summer ihres Lebens —, wird sie wieder zur Patientin und verbringt die letzten zehn Jahre im Bett als senile und blinde alte Frau, von der in der Öffentlichkeit kaum jemand weiß, daß sie noch lebt.

Die Orden und öffentlichen Auszeichnungen, die ihr kurz vor dem Tod plötzlich noch verliehen werden, erreichen ihr Bewußtsein nicht mehr. Nachdem sie das letzte halbe Jahr in völligem Schweigen verbracht hat, stirbt sie im Alter von 90 Jahren am 13.August 1910.

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