Die Sprengmeister von Hanau

Ahnungslose Experten vor und nach der Explosion des Abgaswäschers  ■ Von Klaus-Peter Klingelschmitt

Frankfurt/Main (taz) — Die sogenannten Atomexperten aus den Reihen des Technischen Überwachungsvereins (TÜV) in Bayern sind reif für die Weiterbildung in Sachen Chemie: Mit ihrer Versicherung, der Abgaswäscher der Brennelementefabrik der Firma Siemens in Hanau hätte mangels „zündfähiger Gase“ in dem Behälter nicht explodieren dürfen, haben sie sich endgültig für entsprechende Maßnahmen qualifiziert. Denn die Behörde, die die gesamte Atomanlage im vergangenen Jahr für „genehmigungsreif“ erklärte und insbesondere den Wäscher nur unter dem Gesichtspunkt der Urankonzentration untersucht hatte, verfügt offenbar nicht mal über ausreichendes chemisches Standardwissen. Der Wäscher flog in die Luft, weil sich in ihm explosionsfähiges flüssiges Ammoniumnitrat gebildet hatte, das in fester Form als Sprengstoff bekannt ist. Noch Tage nach der Explosion, bei der drei Mitarbeiter des Siemens-Werks verletzt und radioaktiv verseucht wurden, hatten auch die Beamten des hessischen Umweltministeriums und Siemens-Unternehmensvertreter behauptet, flüssiges Ammoniumnitrat sei „nicht explosiv“.

Dabei war schon 1987 in einem Sicherheitsbericht für die geplante Wiederaufarbeitungsanlage Wackersdorf auf die Explosionsgefahr durch Ammoniumnitrat hingewiesen worden. Darauf wiesen die Grünen im hessischen Landtag gestern hin. „Ammoniumnitratlösungen neigen zur Zersetzung“, zitiert der 'Spiegel‘ in seiner jüngsten Ausgabe ein Standardwerk über gefährliche chemische Reaktionen von 1984. Beim Eindampfen dieser Lösungen sei es wiederholt zu Verpuffungen gekommen, „bei denen der Stoff nach allen Seiten auseinanderflog“. Für die Grünen hat der Knall von Hanau „alles an Ignoranz und Inkompetenz überboten“, was sich die Genehmigungsbehörde unter Minister Weimar (CDU) bislang erlaubt habe. Ihr Abgeordneter Rupert von Plottnitz: „Daß in einer Atomanlage Sprengstoff produziert wurde, schlägt dem Faß den Boden aus.“ Als Konsequenz fordert die grüne Landtagsfraktion den Rücktritt von Umweltminister Weimar und die umgehende Stillegung aller Hanauer Nuklearbetriebe. Eine Aufsichtsbehörde und ein Betreiber, die solche Unfallursachen nicht erkannt hätten, seien „hochgradig unzuverlässig“. Unabhängige Gutachter müßten jetzt eine Gesamtrevision der Atomanlagen durchführen. Dem hessischen Landtag empfahl von Plottnitz die Einrichtung eines eigenständigen Ausschusses zur Kontrolle der Genehmigungsbehörde und der Betreiber. Außerdem dürfe der TÜV Bayern „nie wieder“ ein Gutachten für eine Atomanlage anfertigen.