Drei Wege zur Unabhängigkeit

■ Verschiedene Strategien der Balten — je nach russischem Bevölkerungsanteil

Der Kampf um die Unabhängigkeit hatte in den drei baltischen Republiken bisher ähnliche Verlaufsformen und bewegte sich überwiegend im gleichen Zeittakt, dennoch gibt es auch gravierende Unterschiede. In allen dreien errangen 1990 die Kandidaten der für die Unabhängigkeit eintretenden „Volksfronten“ überwältigende Wahlsiege, und überall wurde die Wiederherstellung der 1940 untergegangenen Republiken als souveräne Staaten proklamiert. In Estland und Lettland allerdings wurde eine mehrjährige Übergangsperiode vorgesehen. Dem entsprechend arbeiten Estland und Lettland vorübergehend noch in den Organen der Union mit, den neuen Unionsvertrag wollen sie jedoch nicht ratifizieren. Litauen, das vollkommen ausscherte, hatte deshalb mit der ökonomischen Blockade des letzten Sommers und jetzt mit dem offenen militärischen Angriff die Hauptlast zu tragen. Der Grund für die divergierenden Strategien liegt in der unterschiedlichen ethnischen Zusammensetzung der Bevölkerung in den drei Staaten. Während in Litauen fast 80 Prozent der Bevölkerung litauischer Abstammung sind (bei 9,4 Prozent Russen und 7 Prozent Polen), besteht Estland nur zu 61,5 Prozent aus Esten, Lettland sogar nur zu 52 Prozent aus Letten. Die Zunahme des russischen Bevölkerungsteils war eine Folge der forcierten Industrialisierung nach 1945 und des — im Vergleich zu Rußland — weit höheren Lebensstandards. Allerdings bedeutet die Zugehörigkeit zur russischen Nationalität — das beweisen Meinungsumfragen und sogar die Ergebnisse der Wahlen — nicht automatisch Gegnerschaft zu den Unabhängigkeitsbestrebungen. Erst dort, wo Angehörigen der Minderheitennationen Rechte verwehrt werden oder versucht wird, sie von politischen Entscheidungen fernzuhalten, reüssieren die prosowjetischen Gruppen. Deren Führer, meist Personal aus der Armee und dem KGB, können dann die Ängste der materiell schlechtgestellten russischen Arbeiter schüren.

Auffällig ist hier der Unterschied zwischen der Politik der estnischen und lettischen Unabhängigkeitskräfte. Die umsichtige lettische Volksfront vermied jede Diskriminierung, stellte die gemeinsamen demokratischen Ziele in den Vordergrund und kann deshalb bis heute auf mindestens ein Viertel der russischen Stimmen rechnen. In Estland hingegen wurde mit der Gründung eines Kongresses „reiner“ Esten (einer Parallelinstitution zum Parlament, die einen riesigen Organisationserfolg erzielte, im Laufe des Jahres 1990 aber in eine Krise geriet) die russische Minderheit in die Arme der Unabhängigkeitsgegner getrieben. In allen baltischen Staaten stellen die Volksfronten für die Unabhängigkeit eine Koalition politisch sehr heterogener Kräfte dar. Ihre Führungsgruppen entstammten nicht selten dem reformorientierten Teil der realsozialistischen Machtelite. Seit den Wahlen des letzten Frühjahrs hat die Bevölkerung auf den zunehmenden Druck der sowjetischen Zentrale mit einer Radikalisierung des Unabhängigkeitskurses geantwortet. Die ursprünglich sehr enge Verbindung zwischen den Zielen Unabhängigkeit und Demokratisierung lockerte sich, wodurch auch die Aktionseinheit mit den russischen Demokraten schwieriger wurde. Mit der Radikalisierung wird die Position von Politikern prekär, die die Unabhängigkeit schrittweise und auf dem Verhandlungsweg erreichen wollen. Sie werden durch entschlossene, aber politisch unerfahrene, oft verengt-nationalistisch geprägte Aktivisten bedrängt — ein Prozeß, der durch die organisatorische Schwäche der nichtnationalistischen neuen Parteien, die innerhalb der Volksfronten entstanden sind, verstärkt wird. Die vormals herrschenden kommunistischen Parteien wechselten ins Lager der Unabhängigen und mutierten zur Sozialdemokratie oder spalteten sich. In Litauen verlief die Umwandlung unter Führung von Brasauskas erfolgreich, eine nennenswerte konservativ- prosowjetische Gruppe ist nicht entstanden. Ganz anders in Lettland und Estland, wo sich im Gefolge der Spaltung konsolidierte prosowjetische Parteien bildeten. In allen drei baltischen Republiken besteht jetzt die Gefahr, daß die Verschlechterung der Lebensbedingungen der antidemokratischen Demagogie Auftrieb gibt. Christian Semler