AUSBELGIEN

DERMUSIK-TIP  ■  REVOLTING COCKS

Aus den meisten Reisetagebüchern des 20. Jahrhunderts ist Belgien gestrichen. Ungern passiert der hochtourige Kleinwagen die beleuchteten Autobahnen, um die nächtliche Fähre zum Billigtarif gen England zu erreichen. Und auch der lebenslustige Frankreich-Genießer durchkreuzt das flache Land mit starrem Blick auf die Straße, vom abendlichen Pastis und Besser-Essen träumend. Belgien bietet bloß Fritten und Bier, was natürlich essentieller für das tägliche Überleben ist. Aber wer sucht auf Reisen schon das Leben oder dessen Basis?

Revolting Cocks sind fahrende Musikanten zwischen Belgien und USA mit herrlicher Stammwürze. Luc van Acker hat damit 1986 ein elektronisches Projekt ins Leben gerufen, dessen stählerner Muskel aus der Drum-Maschine wie ein Hammer einschlug. Viel Härte und schales Gefühl, die erste Plattenveröffentlichung klang der Fieberkurvenvertonung eines Industriearbeiters am Hochofen gleich. Mit Arbeit ist die Aufgabe des Musikers in dieser Zeit auch am angemessensten zu betiteln (Chris & Cosey sangen »Education through labour«, nicht sentimental). Dann entdeckten viele Elektroniker den Körper als Maschinenpark wieder. Mit EBM (=electronic body music) umspielten sie sehr tanztauglich die Verrenkungen der Gliederpuppe Mensch, wobei der Kopf genauso dazugehört als another sex machine.

Es war eine strenge Erziehung zur Liebesarbeit gefordert, wie sie in der Musik von Front 242, Chris & Cosey, Front Line Assembly oder eben Revolting Cocks zum Ausdruck kam und in Experimentalvideobilderwelten mit Schweiß und Blut und Fleisch und schwarzem Leder symbolisiert wurde. Aus der Steckdose floß (ein) Strom in den Computer, wurde umgeformt in Samplestöhnen und Unterleibsklangfarben und floß weiter in Hörer und Herzen. Am Ende der Orgie muß es irgendwie weitergehen. Für Luc van Acker & Co bot sich eine Achsenverschiebung an.

Über Gitarre, Baß und Schlagzeug verknüpfen sie im europäisch-amerikanischen Kulturbund (mit Musikern von Finitribe, Skinny Puppy und Ministry) klangerzeugende Vandalenbilder: Cowboy, Rocker und Performer. Auf der Bühne wirkt das als Aggression, die sich nicht intellektuell bricht oder praktisch in gut gemeinte Zerstörung mündet, wie sie der Musikerhandwerker so gerne seinen Instrumenten widerfahren läßt (nach der Show wird dann die Kostbarkeit geleimt und gelötet).

Raw Power, die Iggy Pop nicht mehr verströmt, wartet mit den Revolting Cocks im Loft auf Entladung. Dort leisten sie Basisarbeit zur Internationalisierung dessen, was mit Andechs zum Gefühl wird. Vielleicht sieht man sich demnächst in Belgien bei einem Bier am Wegesrand. Harald Fricke

UM20.30UHRIMLOFT