Mann mit sehr rotem Schal

■ Werkschau von Fernando Birri im Arsenal-Kino

Am Abend vor dem Ablauf des Ultimatums erklärte Sabine Christiansen ihren Zuschauern mit unsichtbaren Falten auf der jungen Stirn, wegen des Ernstes der Lage müsse auf das gewohnte »Schmankerl« am Ende der Sendung wohl verzichtet werden. Ähnlich merkwürdige Zusammenhänge werden an diesem Abend bei fast allen öffentlichen Veranstaltungen hergestellt worden sein, und aus Angst davor sind bestimmt viele lieber daheim geblieben und haben Tagesthemen geguckt... Im Arsenal-Kino saß der lateinamerikanische Filmemacher Fernando Birri vor ziemlich vielen Fans, Freunden, Zuschauern und ein paar DAAD-Abgeordneten (die nämlich bezahlen derzeit sein Berlin- Stipendium). Dort ist es Birri tatsächlich gelungen, zwischen einer Lesung von Liebesgedichten, kombiniert mit Dia- und Filmvorführung, zu lateinamerikanischen Themen und dem »Abend vor der Apokalypse« eine gewisse Verbindung herzustellen, die aber keineswegs wie ein erzwungener Drahtseilakt wirkte. Nicht etwa, weil er erdballumspannende Rundumschläge gewagt hätte, die hat Birri vielmehr, als er danach gefragt wurde, durch einen Exkurs über Thomas Mann, Hermann Hesse, Octavio Paz, eine kompliziert-besorgte Hindu-Quelle und zurück zu seinem eigenen Film ORG ad absurdum geführt. Es war die Stellungnahme zur Situation in Kuba. Dort unterrichtet Birri als Direktor der ersten, von ihm mitbegründeten trikontinentalen Film- und Fernsehakademie. Er, Birri, glaube nicht an die in Europa weitverbreitete Version der »Dominotheorie«, daß nach Ungarn, Polen und der CSFR bald auch die restlichen sozialistischen Staatssteinchen abbröckeln würden. In Kuba gebe es vielerlei zu kritisieren, aber die Revolution sei eine echte und nicht fremdbestimmte gewesen. Und deswegen bliebe Kuba, auch wenn demnächst aus der Sowjetunion keine finanzielle Hilfe mehr zu erwarten sei, sozialistisch. Heute liege es an den Europäern, die letzte politische Alternative in Mittelamerika bzw. der Karibik als solche anzuerkennen und entsprechend zu unterstützen. So sprach Herr Birri und erntete viel Applaus von den Zuschauern, die das Kino dem Fernsehen vorgezogen hatten.

Fernando Birri (65) hätte Filme, Dias und Bilder genug, um sich als lebende Legende zur Ruhe setzen zu können bzw. um sich zu Retrospektiven seines umfangreichen Werkes von Festival zu Festival einladen zu lassen. Er gilt als einer der wichtigsten Filmemacher Lateinamerikas — als Dokumentarist, Theoretiker und als Lehrer. Der gebürtige Argentinier ging 1950 nach Rom und drehte 1952 auf Sizilien seinen ersten Dokumentarfilm Seliunte. Vier Jahre danach kehrte er zurück in seine Heimatstadt Santa Fé, wo er später, in bewußter Entfernung zur Hauptstadt, die erste von bislang drei Filmschulen gründete als »eine Erfahrung gegen die filmische Unterentwicklung Lateinamerikas« (Birri). In Santa Fé entstand Tire diè (»Gib 'nen Groschen«), ein halbstündiger Dokumentarfilm über Kinder, die bettelnd neben einem langsam fahrenden Zug herlaufen. Gedreht wurde er auf 16mm, und auch der Ton wurde bewußt »unprofessionell« aufgenommen. Damit sollte formal der Intention des Films entsprochen werden: einen Beitrag zur Revolutionierung des argentinischen Kinos zu leisten, indem er »eine nationale, realistische und kritische Problematik aufwirft« (so das Manifest zu Tire diè). »Authentizität« und »Selbstentkolonialisierung« wurden später zu den Schlüsselbegriffen des »Neuen Lateinamerikanischen Kinos«, das Birri theoretisch und praktisch entscheidend beeinflußt hat. Auch wenn die historische Bedeutung seiner Filme es so nahelegen würde, das Arsenal-Kino verzichtet auf eine chronologische Werkschau. Birri selbst gefällt die Programmauswahl, die eher auf Kontraste setzt und seine Dokumentarfilmklassiker zusammen mit Lesungen neuerer Gedichte, einer Ausstellung seiner Bilder im Foyer, einer Diavorführung seiner bunt-experimentellen »Fotoglyphen« und seinen selten gezeigten Filmen präsentiert. Tire diè aus dem Jahr 1960 läuft zum Beispiel zusammen mit dem Spielfilm Un Senor muy viego con alas enormes (»Ein sehr alter Herr mit riesengroßen Flügeln«), einer neueren Verfilmung nach der gleichnamigen Erzählung von Gabriel Garcia Marquez.

Fernando Birri trägt bei öffentlichen Veranstaltungen einen sehr roten Schal, so wie Walter Momper es im letzten Winter tat. Nachdenklich starrte man auf das Augenmerk und wundert sich, welch unterschiedliche Bedeutungen so ein einzelnes Kleidungsstück doch transportieren kann. Dorothee Wenner

Die Werkschau dauert noch bis einschließlich Samstag, den 19.1. Termine siehe Programmteil. Birri ist wahrscheinlich zu allen Terminen anwesend, sicher am Samstag im Anschluß an die Filmvorführung Rafael Alberti, ein Porträt des Dichters um 20 Uhr im Arsenal.