Alibi oder Selbstbehauptung?

Das Roma-Theater Pralipe mit Lorcas „Bluthochzeit“ in Mülheim an der Ruhr  ■ Von Gerhard Preußer

Der Zufall brachte es an den Tag. Während in Mülheim das Roma-Theater aus Skopje Premiere hatte — finanziert durch fünfzigtausend Mark aus der nordrhein- westfälischen Landeskasse —, verteidigte NRW-Ministerpräsident Rau vor der Landessynode der Evangelischen Kirche die Rückführung der zugewanderten Roma nach Skopje: Kulturförderung als Ablenkungsmanöver.

Dieses Muster hat Tradition. Die Begeisterung für Zigeunermusik, die Ende des vorigen Jahrhunderts auch die seriösesten Musiker „alla zingarese“ komponieren ließ, änderte an der Diskriminierung der Zigeuner nichts. Das Überraschende an dem Mülheimer Theaterprojekt ist eher, daß es dieses Kalkül sprengt. Hier wird keine folkloristische Ausbeutung einer Minderheitenkultur betrieben.

Das Roma-Theater „Pralipe“ wurde Anfang der siebziger Jahre in Skopje, der Hauptstadt des jugoslawischen Bundesstaates Makedonien, gegründet. Dort wohnen etwa vierzigtausend Roma am Rand der Stadt in einem Wellblechghetto, das ursprünglich für die Opfer des Erdbebens von 1963 gebaut worden war. Rahim Burhan, der Gründer des Theaters, holte sich seine Schauspieler aus dieser Zigeunervorstadt. So entstand zunächst ein Laienensemble im Roma-Kulturverein „Pralipe“. Ihr erstes Stück stellte Motive aus der Roma-Mythologie und Geschichte dar und brachte sie gleich auf die Theaterfestivals von Nancy und Wroclaw. Seitdem wurde die Truppe zum festen Programmpunkt bei jugoslawischen und internationalen Festivals: Split, Dubrovnik, Belgrad, Palermo, Amsterdam, Athen, Berlin. Von Anfang an jedoch standen neben neugeschriebenen Stücken über Roma-Themen auch europäische Theaterklassiker auf dem Programm: Lorca, Brecht, Sophokles. Selbstdarstellung der Roma- Kultur ist das erklärte Ziel der Truppe, aber im Zusammenhang der europäischen Kultur. Schließlich ist keine Nation so international wie die Zigeuner.

Im Prozeß der Auflösung des Vielvölkerstaates Jugoslawien gehören die Roma zu den Verlierern. Die Finanzierung des Theaters in Skopje war immer schon improvisiert. Jetzt gibt es noch weniger Aussichten auf eine finanzielle Sicherung dort. Roberto Ciulli, der Leiter des Theaters an der Ruhr in Mülheim und ein ausgezeichneter Kenner der osteuropäischen Theaterszene, sprang ein. Er will das Roma-Theater als „autonomes Theater innerhalb des Theaters an der Ruhr“ fest etablieren. Von Mülheim aus soll es, ebenso wie Ciullis Truppe, Gastspiele in ganz Europa geben. Und Ciulli ist es gelungen, für diese Zusammenarbeit Geld aus dem Fonds der nordrhein- westfälischen Landesregierung für die Theaterkooperationen zu erhalten. Keine Alibi-Folklore also, sondern Selbstbehauptung der Roma im Gespräch der europäischen Kulturen ist das Ziel des Projektes.

Die jetzt in Mülheim gezeigte Inszenierung unterstreicht diese Konzeption. Frederico Garcia Lorcas Bluthochzeit ist keine Zigeunertragödie, aber ein Stück, in dessen Inszenierung sich Elemente der Roma- Tradition einbringen lassen. Lorca war fasziniert von der Musik und Poesie der Zigeuner seiner Heimat Andalusien. Sie waren für ihn der aristokratischste und repräsentativste Teil der andalusischen Kultur. Tatsächlich war Bluthochzeit das erste Stück eines fremden Autors, das die Truppe spielte. Fast zwanzig Jahre nach der ursprünglichen Inszenierung hat es Rahim Burhan jetzt für Mülheim neu inszeniert.

Archaische Symbolik, lyrische Poesie und rhythmische Musikalität sind die Bindeglieder zwischen dem Spanier Lorca und den Roma- Schauspielern. Orangen sind als Symbole der Sinnlichkeit in der Inszenierung immer präsent. Die Nachbarn, die der Mutter erzählen, daß die Braut ihres Sohnes schon einmal mit einem anderen verlobt war, schälen Orangen bedächtig und ordentlich mit dem Messer. Leonardo, der frühere Verlobte der Braut, der sie sich am Hochzeitstag vom Bräutigam zurückholt, bringt der Braut eine Orange, sie hält sie ihm wieder hin, er bricht sie unbeherrscht auf, beißt hinein, und während sie ihm immer noch die Frucht anbietet, wälzen sie sich am Boden. Am Schluß, wenn die beiden Rivalen tot unter einem grünen Tuch liegen, werden Körbe von Orangen über sie geschüttet. Musik begleitet fast jede Szene. Leitmotivisch kehrt eine melancholische Variation von Bizets Habanera aus Carmen wieder. Diese Musik wird zur zweiten Sprache der Inszenierung neben den uns fremden Klängen des Romanes, der Zigeunersprache.

Aus Lorcas lyrischer Tragödie wird so ein Melodrama von ungehemmter Sentimentalität. Der Gefühlsüberschwang wird aber immer wieder in prägnanten Bildern gebändigt. Wenn Leonardo sich mit seiner ungeliebten Frau streitet, wird seine drohende Handbewegung in Zeitlupentempo verlangsamt, und die Szene hat plötzlich etwas vom zeremoniellen Charakter eines indischen Tanzes. Nachdem die Stimmung während der Verfolgungsjagd nach der Braut und ihrem Entführer mit schwellender Musik aufgeheizt worden war, treffen die beiden Rivalen in völliger Stille aufeinander, wiederum in verlangsamter Bewegung stürzen sie aufeinander zu, begleitet vom stummen Schrei der Braut. In diesen Momenten zeigt sich, daß die emotionale Intensität der Aufführung nicht naiv ist, sondern bewußt kalkuliert. Der Bilderreichtum und die expressive Körpersprache der Inszenierung überwinden die Sprachbarriere leicht. Darin ähnelt Rahim Burhans Inszenierungsstil dem seines Förderers Ciulli. Auch der hat eine Ästhetik der beredten Bilder entwickelt, in der die Sprache oft zum untergeordneten Element wird.

Man würde das Roma-Theater „Pralipe“ unterschätzen, wenn man es nur als weiteren Wellenschlag auf der Woge der Carmen-Imitationen sehen würde. Es geht nicht um den exotischen Reiz südländischer Leidenschaft, sondern um die Formulierung der Identität eines zersplitterten Volkes ohne schriftlich fixierte Kultur. In diesem Prozeß kann das Theater „Pralipe“ eine wichtige Rolle spielen. Die kann es aber nur spielen, wenn es auch sein eigenes Publikum erreicht, das seine Sprache spricht. Deshalb ist die Finanzierung einer Gastspieltournee in Nordrhein- Westfalen nur ein Anfang. Ciullis und Burhans Pläne gehen weiter. Und deren Finanzierung ist noch keineswegs gesichert. Im Zusammenhang einer Politik, die die Integration zugewanderter Roma und das Gespräch zwischen Mehrheit und Minderheit förderte, würde die Etablierung des Roma-Theaters in Mülheim als einer zentralen Institution der über Europa verstreuten Sinti und Roma Sinn machen. Dann wäre seine Finanzierung mehr als ein Alibi.

Frederico Garcia Lorca: Ratvele Bijava ( Bluthochzeit ). Roma- Theater „Pralipe“. Regie: Rahim Burhan. Bühne: Vladimir Georgievski. Mit Elizabeta Kocovska, Sami Osman, Nedjo Osman. Weitere Vorstellungen in Mülheim, Theater im Raffelbergpark: 18., 19., 21.1. und im Schauspielhaus Wuppertal: 24.1.