Windschatten

■ Über die Karriere eines Begriffs KOMMENTARE

Die Sprache fliegt den Ereignissen voraus. Zurückbleibt das Vorstellungsvermögen. Je einschneidender das Ereignis, desto ohnmächtiger wird die Vorstellungskraft gegenüber den Nachrichten, Krisenszenarien, Kriegspanoramen. Nur in der Sprache noch, in der Karriere von Worten, die plötzlich in aller Munde sind, läßt sich erahnen, wie sehr das Ereignis unsere Welt schon verändert hat, bevor es eingetreten ist. Auch Dinge, die nichts mit dem kommenden Golfkrieg zu tun haben, treten aus ihren historischen, sozialen, politischen Gesetzlichkeiten heraus und geschehen „im Windschatten“. Im Windschatten. Und der Windschatten wird immer länger, reißt immer mehr Krisen dieser Hemisphäre in den Sog. Willy Brandt warnte am Montag Gorbatschow, nicht im Windschatten des Golfkrieges das Selbstbestimmungsrecht der Völker im sowjetischen Imperium zu vernichten. Im selben Windschatten hat das jugoslawische Bundesgericht die Unabhängigkeitserklärung Sloweniens für null und nichtig erklärt.

Es ist müßig, zu rätseln, ob da eine neue Realität ein Wort gefunden hat oder ein Wort eine neue Realität suggeriert. Es drückt auf jeden Fall das Bewußtsein aus, daß die epochale Signatur sich wiederum, in der Jahreswende von 1990 zu 1991, gewandelt hat.

Die letzten beiden Jahre haben, für die Protagonisten selbst unerwartet, der Idee der Demokratie eine grandiose, transformierende Kraft verliehen. Wann hatte es das schon einmal gegeben, daß die Demokratie für einen ganzen Kontinent den kairos, die Gunst der Stunde für sich hatte. Allerdings: Die demokratischen Revolutionen in Osteuropa und in der Sowjetunion ließen die Demokratie vor dem Machtkampf mit den Zentralgewalten triumphieren. Sie waren nicht zerschlagen, sondern nur gelähmt. Das einzige Mittel ihrer Macht, die Gewalt, reichte nicht aus. Jetzt droht sie auszureichen. Im Windschatten.

Die Rede vom Windschatten ist zweideutig: Sie entlarvt das Kalkül der Revanche der bisherigen Machthaber; sie konstatiert zugleich auch die Ohnmacht dieser Entlarvung. Die gemeinsamen moralischen und politischen Ansprüche, die noch vor Wochen ausreichten, gewaltsame Unterdrückung der Freiheit auszuschließen — oder doch wenigstens die Sicherheit verliehen, daß ein solcher Versuch das Rechtsempfinden aller mobilisieren würde —, diese Gemeinsamkeit ist verflogen.

Und im Windschatten steht noch viel mehr, genaugenommen die ganze Innenpolitik. Vom Primat der Innenpolitik ist öffentlich nicht mehr die Rede. Im Windschatten laufen unsere Politiker aus der Verantwortung. Wer hätte sich vor Wochen vorstellen können, daß die sogenannten Kosten der Einheit auf Arbeiter und Angestellte abgewälzt werden? Wer hätte eine Regierungsbildung erwartet, in der die wichtigsten Streitfragen nicht geregelt werden? Wer hätte vermutet, daß die Zahl von einer Million Obdachlosen in diesem reichen Lande nur eine Meldung und kein Skandal mehr sein würde? Wer hätte annehmen können, daß ohne großen Proteste die Idee der distributiven Gerechtigkeit des Sozialstaates der Vergangenheit angehören wird?

Im Windschatten taucht eine neue Realität auf, eine sehr viel härtere, kältere, brutale Realität. Die Protagonisten dieser Realität, die Zentralgewalten, die neuen Armutspolitiker, die neuen Reichen sind jetzt schon die Kriegsgewinnler, bevor die Flugzeuge aufsteigen. Im Windschatten. Klaus Hartung