„Jetzt müssen wir zum Ursprung zurück“

■ Rosa-Luxemburg-Forscherin aus der Ex-DDR wirbt für Schulung an der Klassikerin

Annelies Laschitza, Jahrgang 1934, ist Mitherausgeberin der Rosa-Luxemburg-Gesamtausgabe im Ost-Berliner Dietz-Verlag. Sie studierte und promovierte an der Karl-Marx- Universität in Leipzig und leitet heute eine Forschungsgruppe zur Sozialdemokratie im Kaiserreich im Berliner „Institut für die Geschichte der Arbeiterbewegung“.

Heute abend, 20 Uhr, hält Annelies Laschitza in der Forschungs- und Bildungsstätte zur Geschichte der Arbeiterbewegung, Schule Alter Postweg 302 in Hastedt einen Vortrag zum Thema: „Rosa Luxemburg und die Freiheit, anders zu denken — zur Einschätzung Rosa Luxemburgs in der ehemaligen DDR“.

taz: Interessiert sich in der ehemaligen DDR jetzt überhaupt jemand für Rosa Luxemburg — und wenn ja, warum

Annelies Laschitza: Das Interesse an Rosa Luxemburg ist mit dem Scheitern des Versuchs, Sozialismus zu gestalten, erneut geweckt. Die wir dabei waren, zerbrechen uns doch jetzt mächtig den Kopf, die Ursachen gründlich zu erforschen. Und es gibt gleichzeitig immer auch die provokante Frage: Ist damit nicht gleichzeitig auch alle Theorie vom Sozialismus endgültig ins Aus getrieben? Von dieser Seite her gibt es sehr viele interessante und streitbare Diskussionen. Aber insgesamt war das Interesse schon einmal aktiver, nämlich in den Reihen, denen wir zu verdanken haben, daß sie so mutig waren, in einer sehr schwierigen Situation u.a. mit Rosa Luxemburgs Losung „Die Freiheit ist die Freiheit der Andersdenkenden“ auf die Straße zu gehen.

Haben die jetzt nichts dringenderes zu tun, als sich mit Luxemburgs Theorie zu beschäftigen, oder gibt es tatsächlichen Nachholbedarf?

Man muß ja daran denken, daß es natürlich auch bei Rosa Luxemburg keine Rezepte gibt, wie man heute Politik macht. Es gibt auch hier noch ein Erbe, mit dem wir fertig werden müssen. Bisher haben wir vordergründig im Marxismus-Leninismus Lenintheorie und KPdSU-Geschichte und SED-Geschichte und Politbüro- Materialien gelesen usw. — das hat nicht getaugt, das hat formalisiert, das hat gerechtfertigt, legitimiert, dogmatisiert. Jetzt müssen wir zum Ursprung zurück. Man kann sich mit sozialistischen Vordenkern nur auseinandersetzen, wenn man sie sich kritisch erarbeitet und dann ihrem Wesen entsprechend selbst denkt und handelt. In diesem Sinn bin ich z.Z. sehr unzufrieden.

Das Problem hatte Rosa Luxemburg ja auch. Sie ist doch immer wieder am mangelnden Bewußtsein der Arbeiterbewegung ihrer Zeit verzweifelt. Sehen Sie irgendeinen Anlaß zu glauben, heute sei dieses Bewußtsein weiterentwickelt?

Nein, das ist es heute bestimmt nicht. Das ist ein Problem, das mich als Historikerin besonders beschäftigt: das Problem subjektiver Faktor. Menschen in ihrem Denken und Handeln, als Vertreter von Bewegungen oder Parteien zu begreifen und zu beeinflussen — so, daß wirklich das Gewollte herauskommt.

Aber das, was die Menschen wollten, wollte in der DDR doch lieber niemand wissen...

Die DDR-Regierung, die SED hat das auf jeden Fall total versäumt, wirkliche soziologische Untersuchungen über die Wünsche, die Forderungen, die Meinungen der Menschen zu machen.

Aber was Rosa Luxemburg und ihr Vermächtnis betrifft, ist es Fakt, daß sich der direkte Erbeaufschluß in der DDR am totalsten vollzogen hat, indem wir die umfangreichste, die exakteste Ausgabe hatten, und das Gedankengut damit seit Anfang der 70er Jahre voll aufbereitet vorlag. Aber wir haben nicht erreicht, daß es weit um sich griff, so auch an andere Theoretiker heranzugehen. Nicht nur zu suchen, was könnte denn jetzt der Praxis dienen und sich ein paar Zitate zusammenzuklauben, sondern den gesamten Gedanken- und Erfahrungsschatz der Analyse zur Verfügung zu stellen.

Es gab eben diesen Widerspruch: Die SED hat die Herausgabe bezahlt, hat uns als Forschungsgruppe bezahlt, aber sie hat als Parteiführung selbst wenig dazu beigetragen, daß auch nur annähernd einiges von diesem kritischen und demokratischen Gedankengeist der Rosa Luxemburg in die offizielle Politik übernommen wurde. Fragen: Dirk Asendorpf