Ein eisiger Sonnenaufgang in Wedding

■ Jeden Morgen ab vier Uhr warten ImmigrantInnen vor dem Eingang der Ausländerbehörde am Friedrich-Krause-Ufer, um eine Verlängerung der Aufenthaltsgenehmigung zu bekommen/ Polizei ordnet die Schlangen hinter Absperrgittern

Vor einem halben Jahr waren es Flüchtlinge, die sich nächte- und tagelang zu Hunderten vor dem Eingang der Ausländerbehörde drängelten — und sich in ihrer Verzweiflung irgendwann sogar um die besten Plätze prügelten. Seit Wochen nun, im Zuge des neuen Ausländergesetzes, ist dasselbe Tor für ImmigrantInnen in der Stadt zum Nadelöhr geworden. Sie müssen sich dort bei Minusgraden einem absurden Warteritual unterziehen: Wer sich bis dahin noch nicht als Bürger zweiter Klasse fühlte, tut es, wenn er mehrmals ab vier Uhr morgens, flankiert von Polizisten, für die Verlängerung seiner Aufenthaltsgenehmigung angestanden hat. — Die Autorin der folgenden Reportage lebt seit sieben Jahren hier, ist Italobrasilianerin — und brauchte nichts weiter als einen kleinen Stempel der Ausländerbehörde in ihren Paß.

Wedding. Linie 8, Leinestraße-Paracelsusbad. Am Moritzplatz steige ich ein. Die wenigen Fahrgäste werfen mir einen apathischen Blick zu. »Was macht die um vier Uhr früh mit einem Klappstuhl in der U-Bahn«, mögen sie sich fragen. Der Klappstuhl ist eine Idee meines Freundes. »Wenn du schon drei Stunden warten mußt«, hat er gesagt, »dann wenigstens sitzend.« Mit diesem »Geniestreich« will ich Andre, Brasilianer wie ich, überraschen. Er wollte noch früher da sein.

Unser Ziel ist die begehrte Eingangstür der Ausländerpolizei am Friedrich-Krause-Ufer in Wedding. Dort eingelassen zu werden — davon träumen einige hundert »Nichtdeutsche«, die täglich stundenlang in einer Schlange stehen müssen, die mich an das Leninmausoleum in Moskau erinnert. Für mich ist es heute das zweite, für Andre das fünfte Mal. So oft hat er schon von einem »Tête-à-tête« mit seinem Sachbearbeiter geträumt, dem leicht zitternden Beamten, der über die Schicksale derer mit dem Anfangsbuchstaben D entscheidet.

Beim ersten Mal waren wir erst um halb acht morgens hier. In den »schönen alten Zeiten« vor zwei Monaten hätte das gereicht. »Längst vorbei«, erklärt einer der Polizisten lakonisch, die für ein ordentliches Schlangestehen sorgen. »Die ersten sind heute schon um drei hier gewesen.« Damals rückten wir bis auf fünfzig Meter an den Eingang heran. Dann ertönte eine Lautsprecherdurchsage: Für die Buchstaben M und D würden heute keine Nummern mehr verteilt. Wir schlichen wieder nach Hause.

Als EG-Ausländerin — neben der brasilianischen verfüge ich auch über die italienische Staatsbürgerschaft — brauche ich mich vor dem neuen Gesetz ohnehin nicht zu fürchten. Und Andres Lage ist bereits so schwierig, daß sie sich unmöglich noch verschlechtern konnte. Er war inzwischen mehrmals umsonst hier. Langsam zweifelt er, ob er jemals in dieses Gebäude hineingelassen wird.

Für heute gilt das Motto: »Alles oder nichts«. Ich bin um vier Uhr morgens aus dem Haus gegangen, eine Tüte voller Butterbrote, den Klappstuhl unterm Arm und angezogen wie ein Eskimo. Als ich mich der Behörde nähere, traue ich kaum meinen Augen: Um das Gedränge der Menschenmenge zu ordnen, hat die Polizei die Leute zwischen zwei Absperrgittern eingeklemmt. Die Menschen drängen sich darin wie die Tiere im Zoo. Die Beamten passen auf, daß niemand aus dem Käfig herausspringt. Andre, nur durch seinen roten Schal in der Dnkelheit zu erkennen, ist durch nichts mehr zu erschüttern. Heute stehe wir nur hundert Meter vom Eingang entfernt. Bis dahin vergehen noch drei Stunden. Wir versuchen, den eisigen Wind zu ignorieren, essen die Brote, vertreiben uns die Zeit mit Spielen. Die vier jungen Türkinnen hinter uns umarmen sich, um die Kälte zu lindern. Ein Polizist geht auf und ab und beobachtet die Menschenmenge. Ein Mann wird angeblafft, weil er seine Zigarettenkippe über die Absperrung geschnippt hat. Wer seiner Wut über das Warten, die Kälte und die unmenschliche Behandlung Luft macht, dem empfiehlt der Beamte, »das Land zu verlassen«. So einfach ist das.

Andre ist die Polizeipräsenz trotzdem recht. »Lieber so wie hier als in Brasilien, wo die Schlangen nie respektiert werden.« Mich irritieren sie, wenn sie Leute anbrüllen oder den Motor ihres Wagens laufen lassen, um sich aufzuwärmen, während wir in unserem Käfig die Auspuffgase ins Gesicht bekommen. Allmählich treffen die Mitarbeiter der Behörde ein. Um sieben Uhr dann eine Überraschung: Wir werden jetzt schon, also eine Stunde früher als gewöhnlich, hineingelassen.

Drinnen geht dann alles sehr schnell. Kurz nach neun sitzen wir vor zwei Milchkaffeetassen im warmen »Café M«. Ich, die Italienerin, betrachte den hübsch glänzenden Stempel in meinem Paß, der mir den weiteren Aufenthalt in diesem Land sichert. Andre hatte ebenfalls sein »Tête-à-tête«; er hält einen äußerst unfreundlichen Brief in Händen, in dem ihm eine Zeitraum von vier Wochen zugestanden wird, um Deutschland zu verlassen. Andernfalls wird ihm mit einer Geld- oder Freiheitsstrafe oder Zwangsausweisung gedroht. Mit diesem Brief kann er jetzt endlich zu seinem Rechtsanwalt gehen. Monica Marraccini