Eine antikommunistische Passion

■ »So kann man nicht leben« Goworuchins Abrechnung mit 70 Jahren UdSSR in der Filmbühne

Mit Messern aufgeschlitzte Frauenleiber. Dann ein kleines Mädchen, das von Halbstarken zu Tode vergewaltigt wurde. Ein Elternmörder. Ein Polizist, der von Autodieben überrollt wurde. Jugendliche Killer, kaum erwachsen, die nach irgendwelchen Bluttaten berichten, sie hätten einfach nichts empfunden. Authentische Bilder aus der Perestroika-Sowjetunion von 1989/90.

»So muß man mal morden«, stellt ein Mann zu Hause beim Videogucken fest — und geht los und tut's. Hübsche Jungengesichter auf der Anklagebank in einem Mordprozeß: Sie feixen in die Kamera, gähnen, erzählen Witze. Maximilian Schell kommentiert und übersetzt mit brüchiger Stimme dramatisch aus dem Off. Immer wieder andere Mörder — Vergewaltigeraugen, immer neue Opfer. Völlig leer, teilnahmslos, gefährlich undurchschaubar blicken die Täter in die Kamera. Der sowjetische Mensch an sich, diese Botschaft hämmert Regisseur Goworuchin wieder und wieder dem Publikum seiner dokumentarischen Gewaltorgie ein, ist ein Kunstprodukt geworden, bar jeglicher Hoffnung, Werte und Moral.

Schließlich auch noch die Ziege aus der »Datscha Nummer acht«: Jugendliche haben sie geklaut, vergewaltigt, ermordet, liest die Nachrichtensprecherin des russischen Fernsehens ihren Zuschauern vor. Der Film wird zur flimmernden, vertonten 'BZ‘: grell, bunt, schaurig — und natürlich erschütternd. Bloß: Alles Süßliche, Beschauliche, Tröstende, was auch zum klebrigen Handwerk des Boulevardjournalisten gehört, hat der »Dokumentarist« Goworuchin gar nicht erst gefilmt. Das schrecklichste Verbrechen des Kommunismus, sagt Goworuchin, »ist das Hervorbringen des neuen Menschen«.

So kann man nicht leben ist als plakativer Schocker und Hilfeschrei angelegt. »Warum sind wir bloß so geworden?« fragt der Streifen seine sowjetischen Zuschauer, die ihn ohne jegliche Zensur sehen durften und dem Film einen Riesenerfolg bescherten. Mit dazu beigetragen hat die scheinbar objektive, journalistische Erzählweise, die aber immer wieder durchbrochen wird von moralischen Kommentaren, von Gefühlsausbrüchen, Filmmusik. Der Zuschauer des Briefs an den Obersten Sowjet (Untertitel des Films) soll Voyeur sein, soll mitgerissen werden, verzweifeln, hassen — und kann zumindest hierzulande nichts nachprüfen. Eine journalistische Katastrophe, und noch dazu durchschaubar.

Dann geht's immer schneller vor und zurück durch alle Epochen der Sowjetunion, kreuz und quer durch die Republiken: KGB-Opfer, Massengräber, Lenin-Kultstätten, Archipel Gulag. Die Zarenkinder auf Fotos: vorher und nachher. Die kleinen Prinzessinnen mußte man extra noch einmal mit Bajonetten totstechen — ihre Korsette wirkten bei der Erschießung nämlich wie kugelsichere Westen. Was ist das für eine Weltanschauung, die ihre Verwirklichung mit Kindesmord beginnt, fragt Goworuchin. Der Film wird zur Hardcore-Masochismuserfahrung für Linke. Abgerechnet wird nicht mit dem Stalinismus, sondern mit Lenin, der Oktoberrevolution, mit der reinen Lehre an sich, und zwar gnadenlos ohne Gorbi-Erleuchtung, ohne Perestroika-Hoffnung. Hundert Jahre wird es dauern, bis die Perestroika greift, lautet die Botschaft. Denn schlimmer als alle wirtschaftlichen und politischen Probleme ist der Rückbau des Menschen zum Menschen. Die angeblich 60 Millionen Toten des Sowjetsystems in sieben Jahrzehnten sind nur die eine Seite der Anklageschrift. Hinzu kommen Demütigungen über Demütigungen — und dies mehrere Generationen lang. Sie haben einen seelischen Holocaust bewirkt: Die moralisch und materiell völlig verarmten Bewohner eines der reichsten Länder der Erde wurden zutiefst gedemütigt. Goworuchin filmt die endlose Wodkaschlange, den Versuch, im eigenen Land Hotelzimmer zu kriegen, oder die Polizei als ständigen Wegelagerer: Bestechung und Korruption als täglich Brot.

Die filmische Reise durchs Riesenreich wird immer hektischer: Ural, Sibirien, die Hauptstädte, wieder Ural, die Krim, die hilflos Trauernden von Baku im Januar 1990. Und immer wieder die alltäglichen Wodkaschlangen: 50.000 vom Teenie bis zum kriegsinvaliden Urgroßmütterchen frieren jämmerlich und stundenlang vor dem Schnapslager, um sich ihre Flaschen abzuholen. Schließlich werden die Milizionäre, aber auch die Alten und Schwachen vom saufenden Volk überrannt. Die Orgie im Filmschneideraum, die Überfülle zusammengeschnittener Alltagskatastrophen wird zur Passion im biblischen Sinne. Immer mehr kommt der Eindruck einer abgeschlossenen Leidensgeschichte eines Riesenvolkes auf, deren Ende nicht mehr offen ist.

Konsequenterweise tritt nun die Religion (wieder) auf den Plan. Spärliche Hoffnung bietet der Film bei den Bildern vom orthodoxen Pfingstfest: ein kleines Häufchen aufrecht Menschlicher inmitten eines Morastes von Elend und Schande. Blumen, Kerzen und Kreuz gegen Schmutz und Schund. Es ist, als stünde irgendwo die Arche Noah für sie bereit...

Angewidert schreitet Goworuchin aus dem Off heraus auf die Leinwand und betritt die Ruine einer Kirche. Eine Schändung, klagt er und deutet auf Schwanz-und-Mösen- Graffiti zwischen zerbröselnden orthodoxen Fresken, auf Kondome, Schnapsflaschen und ein Liebeslager im Exgotteshaus. Irgendwelche Jugendlichen haben hier gezecht, gevögelt, Karten gespielt und westliche Produktnamen an die Wände geschrieben: Marlboro, Mazda, Toyota.

Es gibt unzählige solcher durchsichtigen Stellen, an denen der Ideologienhasser in seinem hehren Kampf schon wieder an neuen, künstlichen Weltsichten bastelt. Er wird fanatisch und verklärt. Beispielsweise beim verzückten Rückgriff auf die große alte russische Kultur. Beispielsweise bei der Besinnung auf die moralische Kraft der orthodoxen Kirche. Da schlägt dann jedesmal ein grundsätzlicher, prüder, reaktionärer Haß auf alles Moderne durch. Warum sollen Jugendliche nicht in einem verfallenen Gotteshaus ficken?

An solchen Stellen mag man sich nicht länger vom Pseudoaufklärer Goworuchin am Händchen führen lassen. Da hilft auch die manipulativste Trauermusik nicht. Plötzlich schmeckt der Bilderbrei nach einer bekannten Soße: Fundamentalismus, Fanatismus, Verklärung, bloß dieses Mal aus der reaktionären, apokalyptischen Ecke. Aber genau deshalb ist das Epos sehenswert. Man muß sich vom allzu diktatorischen Filmemacher befreien. Man kann ihn mißbrauchen, indem man ihn, den angeblich so Objektiven, zum Objekt der Beobachtung macht. Dieser Mann und vor allem der Riesenbeifall für seinen Film in der UdSSR: das sind mindestens genauso bedrohliche Nachrichten aus der Horrorwelt der heutigen UdSSR. Das neue alte Weltbild hinter dem Streifen ist ein bedrohliches. Denn es gibt nicht nur jene im Film beschriebenen drei Gruppen von Sowjetbürgern, sondern mindestens vier: Goworuchin berichtete uns nur von verkommenen, amoralischen Überlebenskämpfern, von hilflosen Opfern und von machtgeilen Apparatmitgliedern. Als vierte Gruppe entsteht unfreiwillig zunehmend das Bild des autoritären Regisseurs und seiner geistigen Heimat; da träumen sie von Autorität, von Sauberkeit, Kirchenmoral, von Führung...

Goworuchin lügt, manipuliert, malt schwarzweiß — und doch stellt er Fragen, die fast nicht mehr zu beantworten sind.

Es bleibt die furchtbare, quälende Kraft der Bilder von zerstörten Landschaften, von sterbenden Städten, verendeter Kultur. Es bleiben die Gesichter jener in ihrer Würde zutiefst verletzten Menschen.

Wer nicht das ganze Werk pauschal als cineastisch-handwerkliches, tendenziöses Ärgernis verdammt, kommt um den verzweifelten Humanismus dieses antikommunistischen Hilfeschreis nicht herum. So kann man nicht leben ist ein niemals langweiliger Film, zum Verzweifeln aufregend. Gerade für Linke aber auch ein Film, über den man hinterher stundenlang streiten kann. Thomas Kuppinger

So kann man nicht leben von Stanislaw Goworuchin. Moderation der deutschen Fassung: Maximilian Schell und Stanislaw Goworuchin. Ab heute in der Filmbühne am Steinplatz.