„Wir sind immer gerne dorthin geflogen, wo's knallt“

Die Tage der Interflug sind gezählt/ Von den hohen Zeiten des zivilen sozialistischen Flugverkehrs und seinem schnellen Niedergang/ Der erste Flug führte Otto Grotewohl nach Moskau — mit Zwischenlandung in Vilnius/ Inzwischen fliegt im Cockpit die Finanznot mit  ■ Von Irina Grabowski

„Interflug gibt die Ankunft der Linie IF 102 aus Moskau bekannt.“ Oder umgekehrt: „In wenigen Minuten werden wir in Berlin-Schönefeld landen.“ Auch als Ankömmlinge, aber mehr noch beim Abholen war der Flughafen der Hauptstadt für uns ein aufregender Ort. Wie elektrisiert waren wir vom geschäftigen Treiben vor den Abfertigungsschaltern und vom Dröhnen der Flugzeuge, wenn wir auf der Aussichtsplattform standen. Mit wehendem Haar schritten die Passagiere die Gangway hinunter. In der Zeppelin-Bar klickerten die Eiswürfel zu den vielsprachigen Ansagen. Und am Intershop drückten sich unsere Kinder die Nasen platt, um nach reiflicher Überlegung West-Omas Spende in Tic-Tac und Kaubonbons anzulegen. „Fliegen Sie mit der Interflug!“ Sehnsucht nach Weltoffenheit kribbelte uns im Bauch.

Die Erinnerungen an die Glanzzeiten des Flagschiffs der „zivilen sozialistischen Luftverkehrs der DDR“ verblassen angesichts der Tristesse, die sich heute trotz bunter Reklame im Schönefelder Abfertigungsgebäude breitmacht. Der Riesenmoloch Interflug, bestehend aus Flughäfen, Verkehrs-, Agrar-, Bild- und Industrieflug sowie der Flugsicherheit hat sich im Oktober vorigen Jahres in einzelne GmbHs zerkrümelt. Einzig die Airline firmiert noch unter dem bekannten Namen. Zurückgebliebene Aufkleber künden davon, daß Berlin-Schönefeld noch immer der Heimathafen für die Interflug ist.

Von hier aus startete am 16. September 1955 das erste Flugzeug der Deutschen Lufthansa (Ost), die später in der Interflug GmbH aufging, nach Moskau. An Bord der Iljuschin 14 befand sich eine Regierungsdelegation mit dem damaligen Ministerpräsidenten der DDR, Otto Grotewohl. Nach acht Stunden und einem Zwischenaufenthalt in Vilnius landete das Kolbenmotorflugzeug in der sowjetischen Hauptstadt.

Stetig wurde in den 60er und 70er Jahren das Streckennetz erweitert — zunächst in Richtung Osteuropa. Weil dem eigenen Flugzeugbau, in Dresden beheimatet, in der Versuchsphase mit neuen Modellen ständig die Tragflächen wegfetzten, wurde die Flotte mit neueren Typen aus sowjetischer Produktion bestückt. Später steuerte Interflug auch Flughäfen des sogenannten NSW, des „Nichtsozialistischen Wirtschaftsgebietes“, an: vor allem den Mittleren und Nahen Osten, Asien und Afrika.

„Solidaritätsflüge führten Flugzeuge der Interflug zu vielen Brennpunkten des Weltgeschehens als Sendboten der sozialistischen DDR“, heißt es huldvoll in einer Selbstdarstellung aus dem Jahre 1979. „Wir sind schon immer gern dorthin geflogen, wo's knallt“, kommentiert ein Insider. Ob zum Kriegsschauplatz Vietnam oder — mit verdunkelter Maschine — nach Beirut. Von den durchaus ehrenwerten Aufträgen wurde nicht viel Aufhebens gemacht. Der Transport verwunderter Sandinisten aus Nikaragua jedoch lieferte das entscheidende Sujet für die 1985 vom DDR-Fernsehen abgedrehte Image-Serie Treffpunkt Flughafen.

Einige der „politischen Linien“, zum Beispiel nach Luanda, sind nach der Wende eingestellt worden. In sozialistischen Zeiten waren die Flugzeuge der Interflug auch auf diesen Strecken ausgelastet — mit Dienstreisenden, die von ihren Arbeitsstellen die Order bekamen, nur bei der DDR-eigenen Fluggesellschaft zu buchen. Lediglich nach Hanoi gab es auch im letzten Jahr einen Boom an Charterflügen. Vietnamesische Frauen und Männer, einst aus Freundschaft eingeladen, wurden nun als Gastarbeiter in ihre Heimat abgeschoben. Im Fernflugverkehr weren jetzt nur noch Havanna, Peking und Bangkok bedient — und weiterhin Hanoi.

Mit Airbus oder Iljuschin nach Tel Aviv?

Daß am 6. Januar die Fluglinie Berlin-Tel Aviv eröffnet wurde, während das Gros der anderen Fluggesellschaften zeitweilig den Verkehr einstellen will, sieht Interflug-Pressesprecher Elie in der Tradition abenteuerlicher Solidaritätsbeweise: „Wir haben die moralische Verpflichtung, den Kontakt Israels zur Außenwelt aufrechtzuerhalten.“ An die 65.000 DM Versicherungsgelder zahlt die Interflug für jedes „happy landing“ (Auszug aus dem Werbeprospekt) im Krisengebiet. Da dieses Vorhaben schon im September vorigen Jahres publik gemacht worden war, habe man schlecht davon zurücktreten können. Man wolle schließlich seinen Kunden ein seriöser Partner sein. Nur eine kleine Einschränkung gibt es für die allsonntägliche Anbindung an die israelische Hauptstadt, deren Rückflüge bis Mitte Februar ausgebucht sind: Vermutlich werden alsbald nicht mehr die Interflug-eigenen Airbusse dort landen, sondern Iljuschin 62: Dafür sind die Versicherungsprämien deutlich billiger.

„Sympathisch, modern und umweltverträglich“ präsentiert der Pressesprecher die Interflug der Zukunft. Doch zum Abheben fehlen die Flügel. Das „alte russische Fluggerät“ sollte für 90 Millionen DM verramscht werden. Zwar gibt es weltweit einen Mangel an Flugzeugen, doch an den wartungsaufwendigen Silbervögeln, die laut sind und unmäßig Kerosin fressen, besteht kein Interesse. Die Sowjetunion würde ihre Maschinen mit Handkuß zurücknehmen. Mehr aber hat sie nicht zu bieten. Allerdings sollen mit „kostenloser“ Rückgabe offene Rechnungen der Interflug beglichen werden: weder millionenschwere Reparaturen noch zwei 1989 erworbene Flugzeugen vom Typ IL-62 sind bezahlt.

Als erstes aber mußte die Iljuschin 18, ein Frachttyp, am Boden bleiben. Der Transport von Hilfsgütern in die Sowjetunion war die letzte Mission der Besatzungen; jetzt stehen die Maschinen in Schönefeld und warten auf einen Käufer. Alsbald wird dann die IL-62-Staffel aufgelöst und damit weitere 100 hochspezialisierte Kommandanten, first officers, Navigatoren und Bordingenieure in die Untätigkeit entlassen. Übrig bleiben drei Airbusse, die 1988 unter großem Spektakel eingekauft worden waren.

Vorsorglich hatte die Interflug eine „Staatsreserve“ an Mechanikern angelegt, aus der sich die Lufthansa kräftig bedient hat. Großzügig hatte die Interflug dem „Partner“ den größten Hanger in Schönefeld für 30 Jahre zur Miete überlassen. Die Lufthansa baut dort eine Wartungsbasis für ihre Boeing 737 auf und braucht dazu Leute. Demonstrativ freut sich Pressesprecher Elie darüber, daß die Kollegen ein Auskommen gefunden haben.

Die Herren vom Luftfahrt-Bundesamt aber runzeln die Stirn. Auch führendes technisches Personal hatte den Hut genommen, und das Minimum an notwendiger Wartung schien nicht mehr garantiert. Interflug mußte schließlich Ingenieure vom Airbus-Hersteller leasen, um seine Konzession nicht zu verlieren. Auch Lufthansa eilt mit einem „Superangebot“ zu Hilfe: ostdeutsche Techniker für 80 Mark die Stunde!

Doch nicht aus technischen Gründen scheint die Flugsicherheit gefährdet: Im Cockpit fliegt die Existenznot mit. Durch Vorruhestand und Selbstkündigung sind bereits die Hälfte der nach der Oktoberentflechtung übriggebliebenen 3.300 Beschäftigten ausgeschieden — 8.000 Leute arbeiteten noch für die alte Interflug. Derzeit sind es im reinen Airline-Betrieb noch 2.800, und weitere 1.400 sollen gehen, um nach den Vorstellungen der neuen Geschäftsleitung das Überleben in der Selbständigkeit zu ermöglichen.

Gerangel auf den innerdeutschen Linien

Doch die KollegInnen zweifeln an deren Vertrauenswürdigkeit und Kompetenz. Da würden Leute sitzen, die schon früher mindestens auf mittlerer Ebene die Fäden in der Hand gehalten haben, heißt es. Die Geschäftsleitung legte schnell die Priorität auf die Inlandsflüge. Doch bis das ehemalige Großunternehmen seine Liegenschaften und Gebäude sortiert hatte und die einzelnen GmbHs „ausgegründet“ waren, hatte Lufthansa schon lange den Braten gerochen und war selbst in den neuen innerdeutschen Verkehr eingestiegen. Erst Mitte Dezember zog Interflug mit der Linie Berlin-Düsseldorf nach.

Die Flugpläne würden ja koordiniert, gibt sich Pressesprecher Elie gelassen. In Wirklichkeit aber sieht es so aus, daß jeden Morgen zur selben Zeit drei Flugzeuge von Düsseldorf nach Berlin starten. Für die ostdeutsche Airline bleibt nicht einmal eine Handvoll Passagiere übrig. „Über Weihnachten/Neujahr war die Auslastung tatsächlich unbefriedigend“, räumt Elie ein, „aber um ein realistisches Bild zu bekommen, müssen wir die Entwicklung bis Ende Januar, Anfang Februar abwarten.“

Und die Piloten? Nur Verkehrs- Flugzeugführer bis zum Alter von 55 Jahren erhielten die Lizenz nach bundesdeutschem Recht — und das nach einem Lehrgang, wo ihnen noch einmal so richtig gezeigt wurde, was eine Landebahn ist. Umgeschult auf die Boing 737, die die Interflug eigentlich schon im Dezember leasen wollte, wurde bisher keiner. Ohnehin werden für die geplanten acht Boings nur 80 Piloten und Navigatoren gebraucht.

Die meisten Flugzeugführer haben sich mit Haut und Haaren der Fliegerei verschrieben. Interflug war die einzige Möglichkeit in der DDR, diesen Traum auszuleben. Dafür haben manche von ihnen in der Zeit, als noch Parteisekretäre die Flugsperren abnicken konnten, Demütigungen eingesteckt. Mit gleicher Willkür, unabhängig von fachlicher Kompetenz, so fürchtet das „Fußvolk“ der Interflug nun, könnte nun über die Bewerbungen entschieden werden, die jeder für seinen Arbeitsplatz einreichen mußte. Zum 1. April, also noch vor der 60prozentigen „Angleichung“ der Gehälter an die Westtarife, wird 150 Stewardessen und Flugbegleitern gekündigt. Der Überschuß war künstlich erzeugt worden, als im Februar 1990 150 Mitarbeiter der Stasi bei der Interflug unterkamen.

So hilft auf die endlosen Hiobsbotschaften eigentlich nur noch ein Schnaps. Den gibt es, einzigartig auf der Welt, im regulären Flugbetrieb nur bei Interflug kostenlos.