„Eine gleichgültige Gesellschaft ist kriminell“

■ Abbé Pierre von der Hilfsorganisation „Emmaüs“ macht nicht die Politiker für die Obdachlosigkeit verantwortlich

„Vierte Welt“, so bezeichnen viele Franzosen das Elend im eigenen Land. Im Winter ist die Schar der Armen unübersehbar: 400.000 Menschen müssen sich auf der Straße durchschlagen. Viele Odachlose aus der Provinz zieht es in der kalten Jahreszeit nach Paris, weil es hier mehr Aufnahmelager und Suppenküchen gibt — und zudem die „Restos du Coeur“, die kostenlosen „Restaurants des Herzens“, die der verstorbene Komiker Coluche ins Leben gerufen hat.

2,5 Millionen Menschen in Frankreich wohnen unter unzumutbaren Bedingungen. Im Großraum Paris gibt es 20.000 Wohnungen ohne fließendes Wasser. Zugleich stehen nach Angaben des delegierten Ministers für Wohnungsfragen, Louis Besson, in Frankreich 2,24 Millionen Wohnungen leer. Der Staat versucht, den „neuen Armen“ mit Geld zu helfen. Für Mietzuschüsse gab Paris im vergangenen Jahr 130 Milliarden Francs (fast 40 Milliarden Mark) aus. Dennoch mußten im vergangenen Jahr 650.000 mittellose Familien ohne diese Unterstützung auskommen, weil sie ihre Rechte nicht kannten oder die Bedingungen nicht erfüllten.

Für diejenigen, die durch alle Maschen des sozialen Netzes fallen, wurde vor zwei Jahren ein Mindesteinkommen zur Wiedereingliederung eingeführt: 2.000 Francs für eine Einzelperson, 3.000 Francs für ein Ehepaar. Dieses Geld können sich auch Menschen ohne festen Wohnsitz abholen. Einige Hilfsorganisationen kritisieren das Programm allerdings als Alibi, mit dem die Regierung das Fehlen gezielter Aktionen zur Wiedereingliederung der neuen Armen vertuschen wolle.

Sozialwohnungen bleiben den ganz Armen meistens versperrt: Eine Untersuchung ergab, daß vier Fünftel der Haushalte, deren Mitglieder weniger als 20.000 Francs (6.000 Mark) im Jahr verdienen, keine Sozialwohnung ergattern konnten. Die Träger der Sozialwohnungen wollen nicht das Risiko eingehen, säumige Mieter aufzunehmen. Zudem scheuen sie die sozialen Probleme, die die ärmsten Bevölkerungsgruppen in ihre Siedlungen tragen könnten.

Michel Serfass ist Koordinator bei Emmaüs-France, der von Abbé Pierre gegründeten Hilfsorganisation, die sich um Obdachlose kümmert. Er betont, daß es nicht nur in den Großstädten, sondern auch auf dem Land Nichtseßhafte gebe: „Besonders erschreckend ist, daß in den letzten Jahren so viele Familien dazugekommen sind.“ Die Ursache dafür liegt laut Serfass in der veränderten Arbeitswelt: „Schlecht oder gar nicht ausgebildete Menschen, die sich früher mit kleinen Hilfsarbeiten durchschlagen konnten, finden heute kaum noch ihr Auskommen. Ein Teil der Arbeitslosen hat daher keine Aussicht, je wieder eine Anstellung zu finden. Diese Leute sind nicht einmal mehr als Arbeitslose registriert. Wenn sie auf der Straße gelandet sind, kämpfen sie täglich ums Überleben.“ Weil sie oft schlecht ausgebildet sind, finden sich unter den Arbeits- und Obdachlosen auch viele Emigranten oder Franzosen maghrebinischer Abstammung.

Im vergangenen Frühjahr sorgte die Räumung mehrerer Familien für Wirbel, die Wohnungen im 19. und 20. Pariser Arrondissement besetzt hatten. Wochenlang campierten Männer, Frauen, Kinder und Säuglinge auf öffentlichen Plätzen und in Grünanlagen. Inzwischen wurde es still um sie, doch eine neue Unterkunft fanden nur die wenigsten. Emmaüs und die „Stiftung Abbé Pierre für die Unterbringung der Benachteiligten“ kümmern sich noch heute um sie. „Einige konnten in Notaufnahmezentren untergebacht werden, doch viele Plätze gibt es dort nicht“, sagt Michel Serfass. „Andere campieren überall da, wo sie ein bißchen Wärme finden, zum Beispiel über Metroschächten. Vor allem wenn es sich um eine ganze Familie handelt, ist es äußerst schwierig, eine neue Unterkunft zu finden und sie wieder einzugliedern.“

Eine grundlegende Lösung des Problems sei angesichts der Lage auf dem Arbeitsmarkt schwierig, sagt Serfass. Einzelne Fälle könnten durch eine bessere Koordinierung zwischen den Behörden und den Hilfsorganisationen gelöst werden, bevor sich die Leute auf der Straße wiederfänden. „In bestimmten Gegenden gibt es zudem zahlreiche leerstehende Wohnungen. Es ist gewiß nicht einfach, sie für solche Zwecke zu benutzen. Wir brauchen dafür gesetzliche Bestimmungen, natürlich ohne dadurch Privateigentümer zu schädigen.“

Die Stiftung Abbé Pierre macht nicht die Politiker für den Mißstand verantwortlich. „Es ist die breite Bevölkerung, die den Problemen der Menschen, die unter unzumutbaren Bedingungen leben, gleichgültig gegenübersteht“, sagte Abbé Pierre auf einer Pressekonferenz. Eine solche Gesellschaft sei „kriminell“. Bettina Kaps

Die Autorin ist freie Journalistin in Paris.