„Vielleicht warten auf mich jetzt Jahre des Exils“

■ Interview mit Juris Lorens, Aktivist der Unabhängigkeitsbewegung und Leiter des Informationsbüros der lettischen Volksfront INTERVIEW

taz: Kamen die Aktionen der sowjetischen Militärs in den baltischen Staaten überraschend?

Juris Lorens: Nein. Bereits im Dezember gab es Provokationen durch das Militär, und am 2. Januar wurde das Pressehaus besetzt. Wir haben seit längerem mit der Möglichkeit eines Militärputsches gerechnet und entsprechende politische Sondierungen, zum Beispiel mit Jasow, versucht. Vergeblich, wie man sieht. Die Reformpolitik Gorbatschows ist am Ende.

Gibt es Stimmen in Lettland, die jetzt einen bewaffneten Widerstand fordern oder sich darauf vorbereiten?

Nein. Nur die Polizei ist bewaffnet. Die Führung des Landes sagt immer wieder, daß jede Provokation vermieden werden soll.

Wer steht hinter dem „Komitee für Nationale Rettung in Lettland“?

Die Aufrufe dieses Komitees haben keine Unterzeichner. Von Inhalt und Stil her ist es ein Produkt der prosowjetische KP. Sie haben aber nur 12.000 Menschen mobilisieren können — allein die drei Militärhochschulen in Riga haben mehr Studenten. Dagegen hat bei unserer Demonstration am Sonntag in Riga etwa jeder dritte Bewohner Lettlands teilgenommen.

Wie verhält sich die nichtbaltische Bevölkerung?

Erstaunlich viele sind solidarisch mit unserem Kampf, mehr als vorher. Die polnischen Bauern in Litauen zum Beispiel beteiligen sich voll beim Bau der Barrikaden.

Wie will die Volksfront jetzt politisch vorgehen?

Neben der Solidarität des Westens ist vor allem die der anderen Sowjetrepubliken wichtig. Die Unterstützung für uns durch Jelzin ist großartig. Alle 15 Unionsrepubliken müssen sich einig sein im Kampf gegen die Zentrale.

Haben die Balten nicht selbst durch ihre Ablehnung des Unionsvertrages die reaktionären Kräfte in der Moskauer Zentrale gestärkt? War das nicht ein politischer Fehler?

Der Unionsvertrag bedeutet noch mehr Zentralismus als vorher. Es gäbe praktisch keinen Spielraum für eine eigene Finanz- und Steuerpolitik. Außerdem ist völlig unklar, wie die Präsidialherrschaft aussehen soll.

Warum lehnen die baltischen Republiken auch das von Gorbatschow geforderte Referendum über den Austritt aus der SU ab?

Zum einen käme das einer Anerkennung der sowjetischen Gesetzgebung gleich. Wir betrachten unsere Länder aber als seit 1940 von den Sowjets besetzt, alle Gesetze sind folglich illegitim. Außerdem wäre bei diesem Verfahren auch die Zustimmung des Obersten Sowjets nötig. Der ist aber nur zu einem Teil demokratisch gewählt. Schließlich kann morgen wieder ein neues Gesetz gemacht werden, daß nicht nur zwei Drittel, sondern drei Viertel oder 90 Prozent Zustimmung zum Austritt fordert.

Was soll jetzt mit der Hilfsaktion für die Sowjetunion geschehen?

Die Nahrungsmittel waren für uns in Lettland ohnehin nur von symbolischer Bedeutung. Nach der Preisreform sind die Läden bei uns jetzt voll. Wichtig bleibt aber gerade in der jetzigen Situation das Senden von Medikamenten und medizinischer Ausrüstung.

Du bist vorgestern zu einer Dienstreise in den Westen gefahren — mit welchen Gefühlen?

Ich bin in dem Bewußtsein ausgereist, daß ich vielleicht für Monate oder Jahre im Exil bleiben muß. Ich habe daran gedacht, daß in diesem Jahrhundert in jeder Generation Lettlands sich viele zur Emigration gezwungen sahen. Franek Blohm