Israel: Leere Straßen und geschlossene Schulen

 ■ Aus Tel Aviv Amos Wollin

Das öffentliche Leben in Tel Aviv und Umgebung war am Mittwoch morgen weitgehend gelähmt. Die Schulen wurden bis Sonntag geschlossen. Trotz aller Aufrufe, zur Arbeit zu gehen, blieben die meisten Berufstätigen zuhause. Die übliche Rush-hour blieb aus, die Busse waren fast leer, die meisten Geschäfte geschlossen. Lediglich die Banken bemühten sich, den Betrieb aufrecht zu erhalten, doch die Kunden fehlten. Die wenigen Leute, die sich auf die Straßen wagten, schienen auf dem Sprung zu sein, sich von einer Sekunde zur anderen in den nächsten Unterstand zu flüchten. Angst geht um: Man fürchtet, daß es diesmal, anders als in früheren Krieges, kein funktionnierendes Vorwarnsystem gibt, daß es plötzlich knallt und erst anschließend die Sirenen heulen.

Am Vorabend des Ablaufs des Ultimatums war Tel Aviv eine ausgestrobene Stadt. Viele Familien verließen die Stadt aus Angst vor einem irakischen Angriff. In Eilat am Roten Meer und in anderen touristischen Orten fern der städtischen Zentren sind die Hotels voll. Manche hielten auch Jerusalem für sicherer und fuhren dorthin.

Der Ablauf der Ultimatums und drohende Krieg bestimmt auch in Israel die gestrigen Schlagzeilen in der Presse. „Ultimatum vorbei und Saddam reagiert nicht. Der Krieg muß jetzt beginnen“ hieß es in 'Al Hamishmar', einem Blatt, das der linkssozialdemokratischen Mapam nahesteht. Der Leitartikel trug die Überschrift: „Ein notwendiger krieg, der geführt werden muß.“ Weitere Schlagzeilen lauteten: „Das Hinterland ist auf einen irkaischen Angriff vorbereitet“ ('Davar‘), „USA gehen in Stellung: einem Angriff entgegen. Die Zündschnur brennt“ ('Hadashot‘) oder einfach „Die Stunde Null“ ('Yediot Acharonoth‘).

Am Morgen, zweieinhalb Stunden nach Ablauf des Ultimatums, zeigen Rundfunkkommentatoren eine gewisse Besorgnis: Man hatte sich auf einen nächtlichen Angriff eingestellt, „aber jetzt ist schon Tag, und noch nichts ist passiert“. Ein interviewter Experte befürchtet, Saddam Hussein könne, nachdem er „diese Nacht gewonnen hat“, jetzt doch noch mit Vorschlägen für eine friedliche Lösung kommen. Außenminister David Levy, zu den israelischen Kriegszielen befragt, erklärte morgens im Radio: „Wir hoffen, daß die Gefahr und Bedrohung durch Saddam Hussein und sein Arsenal, das künftig Atomwaffen einschließen wird, definitiv zerstört wird.“ Ministerpräsident Shamir sprach von einer unmittelbar bevorstehenden Militäraktion am Golf.

In den besetzten Gebieten herrschte gestern ein Generalstreik als Ausdruck des Protestes und der Trauer nach der Ermordung der drei PLO-Führer in Tunis. Über den gesamten Gaza-Streifen und in weiten Teilen der Westbank wurde eine Ausgangssperre verhängt. Bei Zusammenstößen zwischen Demonstranten und Soldaten wurden zwei Palästinenser erschossen und über hundert verletzt. Abu Iyad, Abu Al- Houl und Hail Abdul Hamid sollen in der jordanischen Hauptstadt Amman bestattet werden.

Israelische „Terrorismusexperten“ beschuldigen Abu Nidal der Morde in Tunis. Die Frage ist allerdings, wer hinter Abu Nidal oder einem seiner Agenten wirklich steht. Es wird angenommen, daß er sein Hauptquartier seit einem Jahr im Irak hat. 'Al Hamishmar‘ berichtet, daß auch die Möglichkeit in Betracht gezogen wird, daß die PLO-Führer in Tunis ermordet wurden, um auf diese Weise geplante Anschläge im Zusammenhang mit einem Golfkrieg im Keim zu ersticken. Es gibt auch die Spekulation, daß der pragmatische und deshalb von vielen als gefährlich angesehene Abu Iyad getötet wurde, um zu verhindern, daß er nicht der Nachfolger Arafats an der Spitze der PLO wird.Siehe Seite 6