Kein Krieg ist »heilig«

■ Sie warten vor Bildschirmen und an Telefonen: Türkische BerlinerInnen sind voller Sorge um ihre Verwandten in der Heimat/ Die meisten befürchten einen Kriegseintritt der Türkei

Geschlafen hat er die letzte Nacht keine Minute. Bis um halb zwei Uhr morgens saßen sie zusammen in ihrer Stammkneipe — gleichzeitig Fanklub des türkischen Oberligisten »BFC Türkiyemspor« — vor dem Fernseher und verfolgten die ersten Nachrichten über die Bombardierung auf Bagdad. Gegen zwei Uhr morgens ist Fikret Okur, türkischer Berliner und Inhaber einer Imbißbude, nach Hause gegangen, hat bis vormittags ferngesehen und mindestens zehnmal erfolglos versucht, seine Verwandten daheim in der Türkei anzurufen.

Mittages telefoniert er wieder von der Kneipe aus. Endlich kommt die Verbindung zustande, und Okur zeigt sich erleichtert. »Alles normal«, sagt er. Sein Cousin, dessen Frau und ihre sechs kleinen Kinder leben zum Beispiel nahe der syrischen Grenze. Mit einem Monatslohn von 300 Mark als Straßenarbeiter verdient der nicht genug zum Leben. Vor allem aber kann er sich und seine Familie nicht in Sicherheit bringen. »Aus der Krisenregion kommt nur weg, wer Geld hat«, sagt Okur. Dann sinniert er darüber, was man alles mit den Militärausgaben für den Golfkrieg hätte machen können und wie »zwei Verrückte einfach die Welt kaputtmachen«.

Auf dem Bildschirm, der ununterbrochen flimmert, erscheint Ellen Arnold von der »Tagesschau« und verliest, daß die amerikanische Regierung mit der erbrachten Leistung von 18.000 Tonnen abgeworfener Bomben auf Bagdad und den geringen Widerstand der Irakis äußerst zufrieden ist. »Scheiß-Bush«, schreit da einer aus der Kartenrunde, die sich unter den Vereinswimpel und Mannschaftbildern zusammengefunden hat. Daß dies ein kurzer Krieg werden könnte, gar einer ohne Blut, wie die Fernsehbilder suggerieren möchten, glaubt in der Kneipe ohnehin keiner.

Egal, ob in den Kneipen und Moscheevereinen, am Dönerstand, auf dem Gemüsemarkt oder im türkischen Reisebüro in der Kottbusser Straße, der Golfkrieg ist beherrschendes Thema — vor allem aber die Frage: Wird die Türkei mit in den Krieg verwickelt? Die kurdischen und türkischen Frauen, die sich im »Familiengarten« in der Oranienstraße treffen, sind davon ebenso überzeugt, wie die Männer von »Türkiyemspor«. Die Türkei wird wohl mitmachen müssen, sagen sie, schließlich ist sie Nato-Land. Doch die Sympathien für die US-Amerikaner sind unter den Berliner TürkInnen keineswegs so einhellig, wie zum Beispiel Straßenumfragen aus der Türkei zu zeigen scheinen. Ein bißchen Ursachenforschung will Okur betreiben: Ganz streng historisch betrachtet, sagt er, gehöre Kuwait ja eigentlich doch zum Irak. Aber diese Analyse wird am Kartenspielertisch schnell von einem Mitspieler gekontert. Ganz streng historisch betrachtet, sagt einer, »gehört Wien auch zur Türkei«.

Sollte die Türkei zur Kriegspartei werden, dann wird sie auf Fikrat Okur verzichten müssen. Wenn der Aufruf kommt, will er nicht zum Militär gehen. Zu gut ist ihm noch der Nachbarkrieg zwischen der Türkei und Griechenland um Zypern in Erinnerung. Von den ökonomischen Folgen dieses Konflikts habe sich sein Heimatland bis heute nicht erholt. »Ein neuer Krieg würde die Türkei endgültig in den Ruin stürzen.« Zudem hat er der türkischen Regierung 15.000 Mark bezahlt, um statt des vollen Militärdienstes nur zwei Monate Grundausbildung ableisten zu müssen. »Da haben sie uns nie eine Waffe in die Hand gegeben — und überhaupt bin ich gegen diesen Krieg.« Andere sind da fatalistischer — und werden ihrer Regierung wohl gehorchen, wenn sie sie zur Armee ruft.

Am dem Bildschirm haben sie auf Sat1 umgeschaltet. Militärische Aktivitäten in der Türkei sind das Thema. Passanten in Istanbul geben ihre ungeteilte Zustimmung zum amerikanischen Bombenangriff in die Kamera. Am Kartentisch werden fatalistische Prognosen abgegeben. »Maximal bis zum Wochenende«, sagt einer, »dann sind wir auch im Krieg«. Daß der »heilig« sein soll, wie Saddam Hussein seit Monaten propagiert, ringt ihnen nur ein müdes Lächeln ab. Einen »Heiligen Krieg« könne Saddam nur mit aber nicht gegen Saudi-Arabien führen, wo sich die heiligen Stätten des Islams befinden. Und überhaupt: »Gegen wen führt man eigentlich einen ‘Heiligen Krieg‚?« Andrea Böhm