Wertlose Schlußfolgerungen-betr.: "Der Guru und der Rabbi", taz vom 5.1.91

betr.: „Der Guru und der Rabbi“ (Mahatma Gandhi und eine aktuelle Schlußfolgerung),

taz vom 5.1.91

Ein Kennzeichen unserer gesellschaftlichen Entwicklung scheint mir zu sein, daß politische Auseinandersetzungen immer platter, undifferenzierter und damit auch konfrontativer geführt werden. Der Beitrag von Hannes Stein ist dafür ein Schulbeispiel.

Er verfährt darin nach der Methode, seinen Denkrahmen a priori zu setzen, dann aufzuzeigen, daß die Haltung eines anderen dazu quersteht, wodurch er diesen dann ad absurdum geführt sieht. Am Schluß bleibt ihm dann ein selbstgefälliges „quod erat demonstrandum“ und das lautstarke Ausposaunen der Disqualifikation des anderen. Das Eigenartige an seinem Beitrag ist, daß er anfangs auf den Kultursprung gegenüber Gandhi verweist (Gandhis Lehren tragen unverkennbar indische Züge, sie sind antimaterialistisch und antieuropäisch), um sie am Ende aus eben dieser materialistischen und europäischen Perspektive abzuqualifizieren — dies offenbar, ohne sich die Mühe zu machen, sich in die Denkweise Gandhis hineinzuversetzen.

Offenkundig wird dies daran, wie er Gandhi zu einem Heiligen stilisiert, der nicht mehr die einfachsten menschlichen Regungen hatte. Denn was als menschliche Regung zu gelten hat, ist so kulturspezifisch wie nur was. Und selbst in der Kultur, von der der Autor ausgeht, ist es nicht eindeutig. Wie könnten sich sonst Eltern wünschen, daß ihre Kinder als Soldaten in den Krieg ziehen?

Aber jemand, der sein Leben vor der Zeugung angefangen hat und nach seinem Tod weitergehen wird, mag unter gewissen Umständen mehr zu fürchten haben als den Tod, für den mag der Tod in einer bestimmten Situation das kleinere Übel sein. Wie kann sich der Autor das Recht nehmen, von seinem völlig anderen Standpunkt aus beurteilen zu wollen, was für so jemanden menschliche Regungen sind.

Daß jemand, der sich mit der jüdischen Geschichte identifiziert, Schwierigkeiten hat, Zugang zu diesen Passagen Gandhis zu finden, ist nachvollziehbar. In diesem Fall scheinen solche Schwierigkeiten einer gedanklichen Auseinandersetzung im Wege zu stehen.

Die Erfahrungen Gandhis sind als seine Erfahrungen richtig. Daß er unter Gewaltlosigkeit etwas anderes verstand als die Haltung der Juden unter dem NS-Regime, scheint mir offenkundig. Daß Hannes Stein sich in seinem Artikel nicht um ein Verständnis dieser Gewaltfreiheit bemüht hat, ebenfalls. Dies macht seine Schlußfolgerungen wertlos.

Ich habe den Eindruck, daß sein letzter Abschnitt Ausgangspunkt seiner Überlegungen war. Den Umweg über Gandhi hätte er sich sparen können — er hat ihn ohnehin nicht genommen, wohl aber über sein selbstgebasteltes Zerrbild von ihm. Udo Starz