„Fernsehen und beten“

Alltag am Tag eins des Krieges: Scheinbare Normalität überdeckt die Angst und Ratlosigkeit/ Wer nicht arbeiten muß, vergräbt sich zu Hause  ■ Aus Berlin Vera Gaserow

Journalisten haben es gut. Sie können sich wenigstens an der Arbeit und dem hektischen Informationsfluß festhalten, wenn das Radio morgens meldet: Wetter durchgehend heiter, ansonsten Krieg. Wie sieht der Alltag aus an diesem Tag eins des Krieges? Was machen die Menschen an einem solchen Tag, zum Beispiel diejenigen in einer zufällig ausgesuchten Straße?

Wären nicht die demonstrativ ausgehängten weißen Bettlaken an dem Eckhaus, die Kreuzberger Mariannenstraße sähe an diesem Morgen aus wie immer. Im Supermarkt zwischen den Regalen wird über die Masern der Kinder geredet, im Szenecafé über den neuesten Lover. Die Tochter muß wie jeden Morgen in den Kindergarten, und damit die Familie abends „was Warmes“ in den Bauch bekommt, wird eingekauft. Aber unter dieser Oberfläche ist wenig von Normalität zu spüren. „Haben Sie auch geweint?“ fragt der junge Mann in der Apotheke, der nur sein Medikament abholen will. Er jedenfalls habe geweint, die Nacht kaum geschlafen. Ganz still sei es am Morgen in der U-Bahn gewesen, berichtet die Apothekerin. Für einige Sekunden hat sie überlegt, gar nicht erst zur Arbeit zu kommen, „aber das geht ja nicht wegen der Leute“.

Wenn sie nicht hätte arbeiten müssen, die Kassiererin im Supermarkt wäre „zum ersten Mal dahin“ gegangen und meint mit „dahin“ die Friedensdemonstration. Aber anders als die Belegschaft des alternativen Gemüseladens an der Ecke kann sie mittags nicht die Ladentür schließen, „und außerdem weiß man ja nicht, ob das was nützt“.

Auch die türkische Bäckerei hält ihre Pforten geöffnet, und das ist gut so. Das Geschäft mit den duftenden Weißbroten ist an diesem Morgen Treffpunkt und Informationszentrale der türkischen Bevölkerung rund um die Mariannenstraße. „Alle, alle haben Angst“, beschreibt der Bäcker die Stimmung seiner Kundschaft. Viele seiner Landsleute versuchen seit Tagen vergeblich, ihre Familien in der Osttürkei zu erreichen. Er selber hat es heute früh geschafft. Zum Glück sei noch alles ruhig gewesen, „aber man weiß nicht, was morgen ist“.

Auf der Straße zieht eine Gruppe von Zweitkläßlern mit rührenden, selbstgemalten Transparenten in Richtung Demonstration, vorbei an dem Reisebüro, in dem noch Super- Sparpreise für Flüge nach Caracas, Bali oder die Malediven werben. Aber seit Tagen häufen sich die Stornierungen, und das nicht nur für Reisen in die Krisenregion. „Mir wäre jetzt ja auch nicht nach Reisen zumute“, gesteht der Angestellte des Reisebüros, „die Leute wollen in diesen Zeiten zu Hause sein.“ Nur nach Hause will eigentlich auch der junge Bauarbeiter und legt die Zementkelle aus der Hand. Sicher, die Arbeit muß gemacht werden, aber zu Hause sitzt seine Frau, und die ist heute schon bei den ersten Nachrichten in Tränen ausgebrochen „über diesen Wahnsinn, den die machen. Die Araber müssen ja schon ein bißchen verrückt sein. Aber auch wenn wir — ich mein' die Amerikaner — siegen, verlieren wir vielleicht trotzdem. Wenn der Hussein die Ölfelder ansteckt, dann gibt es doch Hungerkatastrophen und Krebs, weil wir kein Ozon mehr haben oder wie das heißt.“

Genugtuung oder gar Triumph über einen wie auch immer „gelungenen“ Erstschlag der Multinationalen Streitkräfte, von diesem Gefühl ist hier nichts zu spüren, eher von Angst und Ratlosigkeit. Die Menschen, egal auf welcher Seite, werden darunter leiden. „Das ist doch schrecklich, auch für die Leute im Irak, die können doch nichts dafür“, schüttelt die Mitfünfzigerin mit den vollgepackten Einkaufstüten den Kopf, „ich versteh' nicht, warum diese beiden, der Bush und der Hussein, das nicht unter sich ausmachen konnten.“ Was man jetzt noch tun kann? „Fernsehen — wir gucken ja seit Tagen nur noch Nachrichten — und beten“, verabschiedet sich die Kreuzbergerin, denn jetzt muß sie nach Hause, schließlich kommen Tochter und Enkelkinder zu Besuch, „und das Leben muß ja auch irgendwie weitergehen. Trotz allem: Einen schönen Tag noch!“