Der Raum ist ein Schlachtfeld

■ Eduardo Chillida im Berliner Martin-Gropius-Bau

Die Linien, die sich auf den frühen Zeichnungen von 1948 zu einem Rückenakt (der von Matisse sein könnte) oder einer Pflanze fügen, emanzipieren sich im Laufe der Jahre zum Thema. Sie zeichnen nicht mehr etwas, sondern sind parataktische Striche, lesbar je für sich und in beliebiger Richtung und Reihenfolge. Die Zeichnungen der fünfziger Jahre kann man lesen, aber nicht interpretieren; sie gefallen — oder auch nicht —, aber sie sagen nichts. Es sind konzeptionelle Studien, ähnlich Varéses Jonisations, die auch Schluß gemacht haben mit der Komposition um einen Grundton herum. Chillidas Zeichnungen der sechziger Jahre gewinnen allerdings Fülle und Schwere, die Linien werden breiter und körperlicher. Schwarze Tinte oder Tusche mit dem Pinsel aufgetragen, sind es immer noch Blätter „ohne Titel“, aber schon „Formen“.

Die größeren Blätter der letzten Jahre heißen Gravitación. Die schwarzen Stücke darauf sind so schwer, daß ein Blatt sie nicht trägt. Zwei Büttenbögen sind übereinandergeheftet, der hintere trägt die durch scharfe Einschnitte und versetzte Ausschnitte erzeugten Positiv- und Negativformen des vorderen Bogens, dessen schwarze Stücke herauszufallen scheinen. Diese Blätter oder Collagen haben schon ein wenig vom Innenraum der Skulpturen und Plastiken Chillidas. Er interessiert sich nicht für den Außen-, sondern für den Innenraum der Formen; den „Raum, den die Formen erschaffen, der in ihnen lebt und der um so wirksamer ist, je mehr er im Verborgenen wirkt“.

Die tonnenschweren Plastiken aus Eisen und Stahl äußern ihre Form derart, daß nichts anderes in ihnen Platz hat; auch die Hohlformen und Löcher sind voll, kraftvolle Leere sozusagen.

Wenn man sich Chillidas Stelen umgeworfen vorstellt oder Omar Khayyams Tische ohne Beine am Boden, sind sie ihrem Gewicht erlegen, ist buchstäblich die Luft raus. Am Beispiel dieser beiden sehr schweren, großen Tische aus Stahl, gewidmet dem persischen Mathematiker, Astronom und Dichter aus dem elften Jahrhundert, erzählt Chillida seinen „Kampf gegen das Gewicht“: Beim Blick durch ein romanisches Kirchenfenster habe er gespürt, daß die Raumprojektion durch die Fensterform „eine andere Dichte besitze“ als sonst der unendliche Außenraum, nämlich die Dichte des Innenraums. In etwa fünf Meter lange, anderthalb Meter breite und zwölf Zentimeter dicke Stahlplatten schnitt Chillida Löcher und Formen, „um zu sehen, ob die Projektion durch diese Löcher oder leeren Elemente so funktionierte, wie ich wollte. Am Anfang hatte ich die Platte in vertikaler Stellung, eines Tages legte ich sie aus arbeitstechnischen Gründen in die Waagschale, auf zwei Holzklötze... Und plötzlich stellte ich fest, daß die Raumprojektion durch diese leeren Löcher so mächtig war, daß man beim Hinunterschauen das Gefühl hatte, sie wären Beine im Raum, die die Platte tragen. Und dann bemerkte ich etwas sehr Seltsames... Der Boden blockierte die Macht des durch die Löcher projizierten Raumes deutlicher als in der aufrechten Stellung, wo sie gegen das Unendliche oder sehr weit Entfernte weisen.“

Mit dem Flaschenzug suchte Chillida die optimale Höhe dieser Luftbeine, die „die sparsamste Verbindung mit dem Boden“ durch drei Stahlbeine ermöglicht. Die Tische sind 49 Zentimeter hoch, und es scheint möglich, sie zu heben und zu rücken. Sie erwecken das „Gefühl, durch den sie umgebenden Raum... und durch den durch die Löcher projizierten Raum getragen“ zu werden. Chillidas Formen schweben, so Octavio Paz, in einem magnetischen Raum, zwischen Gravitation und Levitation.

Das unterscheidet sie übrigens von der archaischen Schwerkraft der Figuren Henry Moores, die nicht umgestürzt werden können, weil sie im stabilen Gleichgewicht ihres Tiefpunkts und Energieminimums ruhen. Moores anthropomorphe, große und kleine Liegende haben keine Tendenz, sich zu ändern, während Chillidas Formen unbeständig sind und auf die Spitze getrieben; ein permanenter, antikatastrophischer Kraftakt zwischen Innen- und Außendichte, wie zum Beispiel die Windkämme in den Brandungsfelsen bei San Sebastián oder Das Haus von Johann Sebastian Bach, dessen Hohlformen massiv und dessen Stahlwände filigran wirken. An Bachs Musik beeindruckt Chillida „die Macht, sich in Zeit und Raum auszudehnen“ wie die Wogen des Meeres, die „scheinbar immer dieselben sind, sich aber immer voneinander unterscheiden“. Die Kraftquelle dieser Musik seien „Bachs Lungen“, mit ihrer hohen Innenraumdichte, und in der Hagia-Sophia-Moschee in Istanbul hatte Chillida „den starken Eindruck, die Lungen Bachs zu betreten“. Und so sieht diese vergleichsweise zierliche Stahlplastik auch aus: wie ein berstender Brustpanzer und zugleich wie eine Kathedrale mit Längs- und Querschiff. Es ist diese „qualitative Physik“ der Dinge und Formen, die Chillidas Plastiken belebt. Das ist das Gegenteil einer Bildhauerei, die das Leben durch Gußformen oder steinerne Abbilder dingfest machen will.

Die Ausstellung ist ein zweifacher Glücksfall. Erstens präsentiert sie die bislang wohl größte Auswahl der Werke Eduardo Chillidas. Das ganze Werk des heute 67jährigen Basken irritiert durch seine förmliche Unabhängigkeit. Keine sogenannten Phasen, keine thematischen Verneigungen, keine Trends. Chillidas Werk ist frei von ästhetischen Eselsbrücken zu irgendwelchen Aussagen. Der zweite Glücksfall ist, wie die Ausstellung im Martin-Gropius-Bau gemacht wurde. Der Rundgang beginnt in Räumen mit kleineren Werken — Plastiken auf Podesten und Papierarbeiten an den Wänden. In diesen Räumen dominiert noch der suchende Blick, die Präsentation ist dem Publikum angepaßt. In den Räumen mit den größeren Werken kehrt sich dieses Verhältnis langsam um: der Betrachter paßt sich in Blick, Haltung und Gang unwillkürlich den Objekten und dem Raum an. Lucie Schauer und Inken Nowald vom Neuen Berliner Kunstverein haben offenbar Raumprojektion und Außendichte jeder einzelnen Plastik bedacht. Es ist eine der schönsten Ausstellungen, die bislang im Gropius- Bau gemacht wurden, der ja gelegentlich mißbraucht wurde zu Geschichtsbewältigungs-Unternehmen wie der Bismarck-Show oder zur Beihilfe genötigt, Joseph Beuys zu musealisieren. Die Chillida-Austellung zeigt endlich, wozu er gut ist, wenn er nicht für außerkünstlerische Zwecke herhalten muß. Für Jubiläums- und Repräsentationsausstellungen kann ja in Zukunft der zur Kulturfestung verbaute Hamburger Bahnhof dienen — als Endstation für alles, was gewesen sein wird.

Hermann Pfütze

Eduardo Chillida, Martin-Gropius-Bau, 11.Januar bis 24.Februar 1991, Katalog: 30 DM. Eine Ausstellung des Neuen Berliner Kunstvereins, mit Unterstützung der Banco Bilbao Vizcaya