Die Macht der Gewaltfreiheit

■ Das Beispiel Norwegen und die Frauendemonstration in der Berliner Rosenstraße

[...] Stein schreibt: „Fazit Nummer eins: Gegen ein anderes Imperium als das vergleichsweise milde der Briten hätte Gandhi keine Chance gehabt. Nur demokratisch verfaßte Gesellschaften garantieren eine genügend große Publicity, ohne die gewaltfreier Widerstand nicht wirksam werden kann. Eine Binsenwahrheit — aber eben doch eine Wahrheit.“

Es ist ein beliebtes Spiel, den gewaltfreien Widerstand zu diskreditieren, indem man immer wieder genau dieses Argument vorbringt. Besonders in Deutschland qualifiziert dies die Widerstandsaktionen, die es gab, als Ausnahmeerscheinungen ab und leistet der Legende Vorschub, Widerstand habe doch keinen Sinn gehabt. Es dient der Entlastung des eigenen Gewissens, der eigenen Untätigkeit.

Im Jahre 1964 veröffentlichte die deutsch-amerikanische Philosophin Hannah Arendt ein Buch mit dem Titel Eichmann in Jerusalem — Ein Bericht von der Banalität des Bösen über den Prozeß gegen den SS-Obersturmbannführer Adolf Eichmann in Jerusalem. Arendt stellt unter anderem die Deportation der Juden aus allen europäischen Ländern dar. Dabei macht sie eine erstaunliche Feststellung: „Wenn es hart auf hart kam, verfügten die Nazis, wie sich zeigte, weder über genug Personal noch über die entsprechende Willenskraft, um ,hart‘ zu bleiben. Gerade bei den Leuten in Gestapo und der SS paarte sich Rücksichtslosigkeit keineswegs mit Härte; auch die Rücksichtslosesten unter ihnen zeigten eine erstaunliche Neigung umzufallen, sobald sie mit entschlossenem Widerstand konfrontiert waren.“ Unter „entschlossenem Widerstand“ verstand Arendt gewaltfreien offenen Widerstand.

Es gibt vier Beispiele, die diese These eindrucksvoll belegen:

—den gewaltfreien Widerstand der norwegischen Bevölkerung gegen die deutsche Besatzung und die Gleichschaltung der Gesellschaft;

—die Rettung dänischer Juden durch den gewaltfreien Kampf der dänischen Bevölkerung nach der Besetzung durch die Deutschen;

—die Rettung bulgarischer Juden durch das geschlossene gewaltfreie Handeln der überwiegenden Mehrheit der bulgarischen Bevölkerung;

—die gewaltfreie Aktion im März 1943 in der Rosenstraße in Berlin, die den Abtransport jüdischer Bürger nach Auschwitz verhinderte.

Schauen wir uns das Beispiel Norwegen und die Aktion in der Rosenstraße genauer an.

Nachdem der militärische Widerstand gegen die Besetzung Norwegens 1940 durch die Deutschen in kurzer Zeit zusammengebrochen war, organisierte sich sehr schnell ein breiter gewaltfreier Widerstand gegen die Besatzer. Zunächst beschlossen die vier großen norwegischen Parteien (Arbeiterpartei, Konservative, Liberale und Bauernpartei), ihre eigenen Ziele zurückzustellen und einen gemeinsamen Arbeitsausschuß zu bilden, der in kürzester Zeit von allen relevanten Kräften Unterstützung bekam. Auch nachdem der von den Deutschen eingesetzte Reichskommissar Terboven die Auflösung dieses Ausschusses sowie die Absetzung der Regierung und des Königs Hakoon VII. verfügt hatte, setzte sich der Widerstand fort. [...]

Zunächst begann es mit symbolischen Widerstandsaktionen. Die Bevölkerung trug norwegische Flaggen an der Kleidung; überall tauchten Zeichen wie „H VII“ (Hakoon VII.) oder das Victory-Zeichen auf. Im Winter 1940/41 trugen die NorwegerInnen rote Zipfelmützen als Symbol des Widerstandes, die sogleich verboten wurden. Die Menschen gingen daraufhin dazu über, Büroklammern an ihre Kleidung zu heften, was soviel heißen sollte wie: „Wir halten zusammen.“ Auch sie wurden untersagt. Es war ein aussichtsloser Kampf der deutschen Besatzer. Sobald ein Symbol verboten wurde, tauchte ein neues auf. [...] Am 9.April 1941 dann, dem ersten Jahrestag der Besatzung, wurde in ganz Norwegen die Arbeit für eine halbe Stunde niedergelegt. [...]

Auch die Gleichschaltung und der Umbau der Berufsorganisationen in NS-Verbände mißlang gründlich. Als dies von dem Reichskommissar Terboven befohlen wurde, wurde die Parole „Raus aus den Verbänden“ ausgegeben. Und so standen die neuen Führer bald fast ohne Mitglieder mit ihren Verbänden da. Bei den Rechtsanwälten traten 80 Prozent, bei den Ärzten ebenfalls 80 Prozent, bei den Ingenieuren 70 Prozent aus. Aber wie sollten die neuen Machthaber kontrollieren, wenn niemand zum Kontrollieren da war? [...]

Die wohl bekannteste Widerstandshandlung geschah bei dem Versuch, die Lehrerorganisation gleichzuschalten. [...] Der seit dem Februar 1942 amtierende norwegische Ministerpräsident und Nationalsozialist Vidkun Quisling kündigte ein Gesetz zur Bildung eines NS-Lehrerverbandes an. Dem mußten alle Lehrer beitreten und dabei eine Verpflichtungserklärung unterschreiben, in der sie die Prinzipien der nationalsozialistischen Erziehung anerkannten.

Über 90 Prozent der 14.000 Lehrer — so Magne Skodvin — kamen dieser Aufforderung nicht nach. Sie verdeutlichten dagegen in einer öffentlichen Erklärung, daß sie sich nicht gleichschalten lassen würden. Auch als mit der Entlassung der Lehrer gedroht wurde, erschienen alle weiterhin in ihren Schulen und unterrichteten nach den alten Regeln und Gesetzen. Diese Aktion wurde durch die persönlichen Erklärungen von über 200.000 Eltern an das Kulturministerium unterstützt.

Schließlich griffen die Nationalsozialisten zu härteren Maßnahmen und schickten ca. 1.000 Lehrer in Straflager und KZs. Die Lehrer konnten ihren Widerstand auch deshalb leisten, weil sie ihre Familien von der norwegischen Gesellschaft versorgt und geschützt wußten. Eine Gleichschaltung des Lehrerverbandes gelang nicht. Der von den Nationalsozialisten eingesetzte Ministerpräsident Quisling wird mit dem Satz zitiert, den er vor Lehrern in einer Oberschule in Stabbek gesagt haben soll: „Ihr habt mir alles zerstört.“

Auch die norwegische Kirche leistete ihren Beitrag zum Widerstand. Der Versuch, NS-treue Pastoren und Bischöfe einzusetzen, scheiterte. In einer Erklärung weigerten sich die Bischöfe und Pfarrer, mit einer Regierung zusammenzuarbeiten, die „zur Gewalt auch noch das Unrecht hinzufügt“. Daraufhin wurde die Staatskirche in ihrer bisherigen Form aufgelöst, aber alle Pfarrer versahen ihren Dienst weiter. Etliche von ihnen wurden verhaftet. Zwei starben im Konzentrationslager. 35 Pfarrer kamen erst 1945 aus dem KZ frei.

Von den ca. 1.700 in Norwegen lebenden Juden konnten ca. 900 über die grüne Grenze nach Schweden fliehen. 734 Juden wurden in die Konzentrationslager deportiert.

Alle Widerstandshandlungen ab der Jahreswende 1941/42 wurden in enger Absprache mit der Exilregierung vollzogen. Es zeigte sich, daß der Widerstand von der ganzen Gesellschaft getragen wurde. [...]

Protest in der Rosenstraße

Gänzlich unbekannt ist die Tatsache, daß es selbst im Deutschland der Nationalsozialisten , der SS und der Gestapo gewaltfreien Widerstand gegen die Deportation von Juden gab, der den Abtransport nach Auschwitz sogar verhinderte. Es handelt sich um die sogenannte „Frauendemonstration“ in der Rosenstraße in Berlin im März 1943. Der Berliner Friedensforscher und Politologe Gernot Jochheim berichtet darüber in seinem kürzlich erschienenen Jugendbuch Protest in der Rosenstraße.

Als zu Beginn des Jahres 1943 die letzten Juden — meist Ehemänner und Kinder nichtjüdischer Ehefrauen — nach Auschwitz deportiert werden sollten, wurden ca. 2.000 von ihnen in einer großangelegten Aktion am 27. Februar 1943 verhaftet. Der Aufenthaltsort der Männer, Frauen und Kinder sprach sich schnell unter den nichtjüdischen Angehörigen herum. Ein Zeitzeuge — damals selbst unter den Verhafteten — berichtet über das Bild, das sich ihm darbot, als er nach seiner Verhaftung von der Gestapo in die Rosenstraße, den Sammelort für alle Gefangenen, gebracht wurde: „Als wir in die Rosenstraße einbogen, traute ich meinen Augen nicht. Ich sah viele Menschen, viele Frauen. Eine richtige Ansammlung. Ich sah Polizisten. Wenige allerdings. Ich sah SS-Männer. Der Lastwagen konnte gar nicht an das Bürogebäude herangefahren werden. Er war auch sofort von Frauen umstellt. Wir mußten herunter, und SS-Männer bahnten uns den Weg durch die Menschen. Und da hörte ich Rufe: ,Laßt unsere Männer frei!‘ ,Unsere Kinder!‘ ,Wir wollen unsere Männer wiederhaben!‘“

Mitten in Nazideutschland demonstrierten Menschen für die Freilassung ihrer jüdischen Angehörigen! Die Demonstration hielt an, weder SS noch Gestapo lösten sie auf. Am 4. März — also nach fünf Tagen Dauerdemonstration — geschah das Unfaßbare: Die SS ließ Maschinengewehre aufbauen und auf die Menschenmenge richten. Aber als sich die Menschen durch diese Aktion nicht einschüchtern ließen, sondern ihren Protest durch Rufe wie „Mörder! Auf Frauen schießen!“ verstärkten und schließlich immer und immer wieder forderten: „Gebt unsere Männer und Kinder frei!“, zog die SS wieder ab. Und endlich die Entlassung aller Verhafteten am 6.März 1943! Kaum zu glauben, aber der Widerstand — gewaltfrei und offen — hatte Erfolg gehabt. Auch hier wurde ein an Gewaltmitteln vielfach überlegener Gegner mit den Mitteln der Gewaltfreiheit niedergezwungen. SS und Gestapo konnten angesichts des entschlossenen gewaltfreien Handelns nicht mehr so reagieren, wie sie es gewohnt waren.

All dies belegt, wie wenig wahr die Behauptung Steins ist, Gewaltfreiheit müsse angesichts eines totalitären Regimes, wie es der Nationalsozialismus ohne Zweifel darstellte, „zwangsläufig“ versagen. Die Steinsche Argumentation unterstellt, gewaltfreier Widerstand sei sinnlos gewesen, und erteilt den vielen Mitläufern die Absolution. Sicher war es einfacher, auf die militärische Kraft und Gewalt der Alliierten zu hoffen, als selbst etwas zu riskieren.

Hannah Arendt schreibt: „Es wäre von größtem praktischem Nutzen für Deutschland, nicht nur für sein Prestige im Ausland, sondern für eine Wiedererlangung des inneren Gleichgewichts, wenn es mehr derartige Geschichten zu erzählen gäbe. Denn die Lehre solcher Geschichten ist einfach, ein jeder kann sie verstehen. Sie lautet, politisch gesprochen, daß unter der Bedingung des Terrors die meisten Leute sich fügen, einige aber nicht. So wie die Lehre, die man aus den Ländern im Umkreis der ,Endlösung‘ ziehen kann, lautet, daß es in der Tat in den meisten Ländern ,geschehen konnte‘, aber daß es nicht überall geschehen ist. Menschlich gesprochen ist nicht mehr vonnöten und kann vernünftigerweise mehr nicht verlangt werden, damit dieser Planet ein Ort bleibt, wo Menschen wohnen können.“

Dietmar Böhm