Perestroika unter sibirischem Kohlenstaub

■ Schattenwirtschaft im westsibirischen Kusnezk-Becken/ Bergwerksdirektoren suchen ihren Weg zur Marktwirtschaft/ Noch aber herrscht der Tausch vor/ Auch staatliche Stellen bedienen sich illegaler Privatunternehmen für offizielle Bauaufträge/ Devise: Auf den Kapitalismus warten, dann legalisieren

Prokopjewsk (taz) — Die Zeche Koskobaja in Prokopjewsk ist eine der ältesten im Kusnezk-Becken, dem westsibiriscen Kohlerevier. Seit 1935 arbeitet man hier nach der gleichen Methode: Die Kohleflöze werden von den Bergarbeitern angebohrt, gesprengt und abgetragen. Wegen des starken Gefälles der einzelnen Kohleschichten ist ein maschineller Abbau nur bedingt möglich. 630.000 Tonnen Kokskohle förderten die zweieinhalbtausend Kumpel auf diese Weise allein im vergangenen Jahr in den zwölf Kohleschichten der Zeche, die zwischen zwei und 20 Metern stark und brandgefährlich sind.

Seit der Inbetriebnahme vor 55 Jahren sind im Bergwerk mehr als 150 Brände ausgebrochen. Bis zu zehn Kumpel kommen jährlich bei Arbeitsunfällen ums Leben, 1990 waren es vier.

Wie die anderen Zechen ist auch der Schacht Koskobaja dem Moskauer Kohleministerium direkt unterstellt. Dort mußte Schachtdirektor Genadin Michailowitsch Sacharow letztes Jahr auch ein Plandefizit von 13 Prozent eingestehen, und das, obwohl der Schacht „jetzt zu 100 Prozent funktioniert“. Daß der Plan nicht erfüllt werden konnte, liegt seiner Meinung nach an der mangelnden Belieferung des Schachtes durch andere Betriebe.

In der mit Marmor ausgelegten Eingangshalle prangt der Leninspruch „Die Kohle ist das wahre Brot der Industrie“, daneben ein Mahnmal für die 150 Kumpel des Schachtes, die im Zweiten Weltkrieg gefallen sind.

Direktor Sacharow rieselt der Staub der Bürokraten leise von den Schultern. Seit dem Sommer 1989, als im gesamten Kusnezker Becken an die 110.000 Kumpel wegen der katastrophalen Arbeits-, Lebens- und Versorgungsbedingungen in den Ausstand traten, ist es für ihn „kompliziert geworden, zu arbeiten“. Die Arbeitsdizplin, schimpft er, habe nach dem Streik nachgelassen. Wirtschaftlich habe die Zeche jetzt zwar „praktisch die Selbständigkeit erreicht“, aber viele wollten nun nicht einsehen, daß, „wenn wir nicht arbeiten, wir auch nicht besser leben“.

Verkauf auf dem Weltmarkt kaum rentabel

Keine Frage, bedeutet er seinen Besuchern, auch für ihn waren die Forderungen der Arbeiter gerechtfertigt. Trotzdem: „Wenn wir den Plan nicht erfüllen, werden wir noch schlechter leben.“ Der Plan, das heißt in Koskobaja: 100 Prozent der Kohle werden im Staatsauftrag gefördert und abgerechnet. Der wirtschaftliche Spielraum für die Zeche ist denkbar gering. Ob er eine freie Vermarktung der Kohle für seine Zeche vorziehen würde? Sacharow läßt sich mit der Antwort Zeit. „Nein, heute möchte ich lieber nicht selber verkaufen.“

Die Koskobaja-Kohle sei im Vergleich zu den anderen Zechen teurer, und wenn der Moskauer Staatsauftrag wegfiele, wäre ein Verkauf auf dem Weltmarkt kaum rentabel. Mit seiner Überzeugung fällt Sacharow weit hinter das zurück, was die Bergarbeiter in ihrem Streik gegen das Moskauer Kohleministerium bereits durchgesetzt haben. Damals haben sie nämlich den Planbürokraten das Recht abgetrotzt, 20 Prozent der Kohle, die über den Plan hinaus gefördert wird, eigenständig vermarkten zu dürfen.

Seit dem Arbeitsausstand von 1989 sind die Arbeiterkomitees ein unbestrittener Machtfaktor in der Stadt. Aus den spontanen Streikkomitees der einzelnen Berwerke ging das städtische Arbeiterkomitee hervor, das die Absetzung einzelner Schachtdirektoren erzwang, dem Moskauer Kohleministerium höhere Löhne und Sozialleistungen für die Kumpel abtrotzte und schließlich auch die Lebensmittelversorgung im Kohlerevier organisierte.

In der Bezirksstadt Kemerowo bildeten die städtischen Komitees eine überegionale Koordinationsgruppe, die im letzten März eine „Konföderation der Arbeit“ gründete. Im Zentrum des Gründungskongresses der Konföderation standen die Forderung, die Kommunistische Partei solle ihren bestimmenden Einfluß auf die Massenorganisationen, zum Beispiel Gewerkschaften und kommunale Gremien, aufgeben. Außerdem müßten staatliche Institutionen wie Gericht, Staatsanwaltschaft, Armee oder KGB mit dem Ziel entpolitisiert werden, sich künftig nur noch dem Gesetz und nicht mehr dem Moskauer Politbüro zu unterstellen.

In Prokopjewsk verweisen die Mitarbeiter des Arbeiterkomitees mit Stolz darauf, daß die Arbeiterbewegung Sibiriens in ihrer Stadt den Anfang genomen habe. Neu ist, daß die Streikaktivisten von damals nun eine „Union der Werktätigen“ gegründet haben, die alle politischen Kräfte an einem runden Tisch zusamenbringen soll, die den Durchbruch der Perestroika beschleunigen wollen. Gemeinsam mit dem Arbeiterkomitee hat sich die Union das Ziel gesetzt, im Bau- und Wohnungswesen wie bei der Lebensmittelversorgung und im Dienstleistungssektor die notwendigen gesellschaftlichen Funktionen aufrechtzuerhalten.

„Die Arbeiter haben recht gehabt“

In der Zeche Tyrgenskaja arbeitet Direktor Anatoli Krugljak eng mit den Vertretern des Arbeiterkomitess zusammen. Das war nicht immer so, wie Sergei Wilikanow aus eigener Erfahrung erzählen kann. Vor dem Streik war Sergei Vorarbeiter einer Hauer-Kolonne, die unter Tage Kohle schürfte und ihren Plan regelmäßig übererfüllte. Vor dem Streik war dem Zechendirektor das resolute Auftreten des Vorarbeiters für Betriebsreformen suspekt. Gegen den Willen der Belegschaft mußte Wilikanow seinen Posten räumen. Heute bedauert das der Zechendirektor. Dem Streik habe er zu Beginn „äußerst negativ“ gegenübergestanden. „Heute weiß ich“, räumt er ein, „daß die Arbeiter recht gehabt haben.“

95 Prozent der Forderungen, die die Streikenden zu Protokoll gegeben hätten, könnten ebenso von den Leitern der Betriebe verfaßt worden sein. Die Bewegung, die jetzt in die Hierarchie gekommen sei, sei allein auf den Druck der Arbeiter hin zustande kommen. „Alles, was wir jetzt an Freiheiten, an Selbständigkeit und Spielraum haben, verdanken wir dem Streik der Bergarbeiter.“ Die materielle Lage der Zeche Tyrgenskaja, sagt Krugljak, war 1989 „noch zu dulden“, im vergangenen Jahr aber sei sie schon „sehr schwer“ gewesen und für 1991 „droht sie, noch schlimmer zu werden“. Die Folgen der Perestroika, sagt der entschiedene Reformer, hätten auch vor seiner Zeche nicht haltgemacht. Die Produktion ist im letzten Jahr um fünf Prozent auf 1.180.000 Tonnen gesunken. Gleichwohl sieht der Schachtdirektor keine Alternativen zur Umgestaltung. Jetzt, sagt er, bestimmen die Arbeiter-Kollektive die Pläne „von unten“. Im vergangenen Jahr waren 95 Prozent des Plansolls als Staatsauftrag für die Zeche ausgewiesen. Für die restlichen fünf Prozent, also etwa 500.000 Tonnen Kohle, konnte die Zeche Direktverträge mit den Abnehmern schließen.

Für das laufende Jahr gibt es aus dem Moskauer Ministerium überhaupt keine Planvorgaben mehr. Ende des Jahres, hofft Krugljak, werden auch 300.000 Tonnen Kohle mehr als im Vorjahr gefördert. „Wenn der Arbeiter sieht, daß wir uns Sorgen um ihn machen, dann wird er sicher nicht schlechter arbeiten.“ Den Bergbau hat der 49jährige, der 1983 zum Zechendirektor bestellt wurde, von der Pike auf erlernt. Aus seiner Zeit als Bergbauingenieur stammen auch die Orden, die er in seinem Schreibtisch aufbewahrt — zuletzt wurde er von der Regierung mit dem „Arbeiter-Banner“ ausgezeichnet.

Zur Aufrechterhaltung der Produktion geht die Betriebsleitung in Tyrgenskaja eigene Wege. Nachdem das Moskauer Kohleministerium weder die maschinelle Ausstattung noch die notwendigen Reparaturen oder die Rohstofflieferungen sicherstellen kann, wendet sich das Zechendirektorium seit einiger Zeit an der staatlichen Planungsbehörde vorbei direkt an die zuliefernden Kollektive. Dringend benötigt werden beispielsweise Elektromotoren für die Pumpen in den Schachtanlagen. Nur: für Kohle, dem einzigen Produkt, das die Zeche anbieten kann, hat das angefragte Elektrokombinat keine Verwendung. Dort wird statt dessen verzweifelt versucht, 8.000 Kubikmeter Holz für die eigene Produktion aufzutreiben.

Initiativen werden von oben sabotiert

Seine Verhandlungspartner will Krugljak nicht benennen, nur den Weg will er skizzieren. Um an die Motoren für die Pumpen zu kommen, verhandelt die Zeche schließlich mit Betrieben aus der Forstwirtschaft über Holzlieferungen für das Elektrokombinat. Dort wiederum heißt es, ohne Investitionen sei bei ihnen gar nichts zu machen. Deshalb wendet sich der Schacht mit der Bitte um Kredite für den Forstbetrieb an eine Bank. Die Bank vermarktet einen Teil der geförderten Kohle, und mit diesen Geldern werden nun die Kredite abgesichert, die der Forstbetrieb für dringend benötigte Investitionen aufwendet. Im Gegenzug liefert er Holz an die Zeche, die es beim Elektrokombinat gegen Motoren eintauscht. „So“, sagt Krugljak, „ist heute die Situation im Revier.“

80 Prozent aller Zechenleiter stehen seiner Meinung nach hinter der Forderung nach Umgestaltung, nach Perestroika und freier Marktwirtschaft. In der „Vereinung Prokopjewsk Hydrokohle“, dem Zusammenschluß aller Zechen in der Stadt, ist davon allerdings nur wenig zu spüren. Weil die Vereinigung vor Ort über die Verteilung der Zuschüsse aus dem Moskauer Kohleministerium entscheidet, halten die Direktoren im erlauchten Gremium mit ihrer Meinung zurück. So bleibt alles beim alten. Die Initiativen zum Strukturwandel, weiß Krugljak, „werden von übergeordneter Stelle sabotiert“.

Eigene Wege geht die Zeche Tyrgenskaja auch im Umgang mit ihren Mitarbeitern. In der Zeche Koskokaja hat Direktor Sacharow die Fragen nach der schwierigen Lebensmittelversorgung mit der Bemerkung von sich gewiesen, die Bergarbeiter würden für ihre körperlich schwere Arbeit entsprechend gut entlohnt. Dabei läßt er es bewenden. Sein Kollege Krugljak rechnet dagegen vor: 250 Gramm Butter, 1 kg Fleich und 500 Gramm Nudeln — das ist alles, was die Bergarbeiter seit dem 1. Januar monatlich für ihre Bezugsscheine erhalten.

Seine rhetorische Frage sollte er vielleicht seinem Direktionskollegen in der benachbarten Zeche stellen: „Was muß ein Direktor tun, der seine Belegschaft zur Arbeit auffordert?“ — „Er muß die Ernährung der Werktätigen innerhalb des Schachte sicherstellen.“ Noch in diesem Monat will er „zu einer Art Unterstützungswirtschaft“ kommen. Die Zeche ist zwar 1989 einer der Forderungen der streikenden Bergarbeiter nachgekommen und hat 30 Prozent des Verwaltungsapparates abgebaut, aber jüngst wurden wieder drei neue Mitarbeiter zeitlich befristet in das Bergbaudirektorium berufen. Ein stellvertretender Direktor soll den gewinnbringenden Direktverkauf der Kohle vorantreiben, zwei weitere wurden für die Arbeitsgebiete „Lebensmittelbeschaffung“ und „Ernährung der Belegschaft“ ernannt.

Um die Lebensmittellieferungen sicherzustellen, will die Zechenleitung darüber hinaus im zehn Kilometer entfernten Dorf Lutschewo einen Teil der dortigen „rückständigen“ Sowchose aufkaufen und selbst bewirtschaften.

Seine Aktivitäten will Krugljak allerdings nur als Provisorium verstanden wissen. Doch wenn er jetzt höre, „daß wir in ein bis zwei Jahren aus der Krise heraus sind, dann glaube ich das nicht“. Für den Übergang zu einer funktionsfähigen Marktwirtschaft hält er einen Zeitraum von mindestens fünf bis sieben Jahre eher realistisch. „Die Bergleute wollen aber jetzt essen“.

Offiziell wird in der „Freizeit“ gearbeitet

Im Schatten der maroden Planwirtschaft treibt der graue und der schwarze Arbeitsmarkt wilde Blüten. Zweifellos das prächtigste Gewächs hat der 35jährige Sergei Nasarow mit seiner — wie er sie nennt — „legal-illegalen Baumontagefirma“ gezüchtet. Über 100 Mitarbeiter beschäftigt er nach eigenen Angaben. Es sollen die besten Facharbeiter der Stadt sein, und jedem von ihnen habe er im letzten Jahr über 10.000 Rubel auszahlen können. Bei einem Durchschnittseinkommen der Sowjetbürger von 250 Rubel im Monat eine stattliche Summe.

Offiziell existiert diese Firma überhaupt nicht, aber die Aufträge kommen sogar von staatlichen Stellen. Drei Projekte — Fabrikhallen aus Leichtmetallkonstruktionen — im Wert von eineinhalb Millionen Rubel hat der studierte Bergbautechniker im letzten Jahr schlüsselfertig übergeben. Für das Jahr 1991, berichtet er vergnügt, sind bereits Aufträge im Wert von über fünf Millionen eingegangen. Seine Firma, die über keinerlei Kapital verfügt, soll weitere Hallen bauen und drei Bergwerksfabriken reparieren.

Der Erfolg gründet seiner Meinung nach auf der Schnelligkeit seiner Mitarbeiter. Dort, wo die staatlichen Kooperativen für den Bau nur eines Objektes bis zu sechs Jahre brauchen, kann er die Bauherren bereits nach sechs Monaten einziehen lassen. Die Materialien muß der jeweilige Auftraggeber selbst beschaffen, und den notwendigen Maschinenpark leiht sich der Jungunternehmer über Staatsfirmen, die als Subunternehmer verpflichtet werden. Lohnnebenkosten gibt es in der Nasarow-Firma auch keine. Seine Mitarbeiter sind sämtlich bei anderen Firmen beschäftigt und dort auch sozialversichert.

Offiziell wird in Nasarows legal- illegaler Firma in der „Freizeit“ gearbeitet. Konkurrenz oder gar ein Ermittlungsverfahren wegen Schwarzarbeit fürchtet der sibirische Yuppi nicht: Wo doch ein Teil seiner Aufträge vom Staat kommt, wer will ihn da belangen? Seine Devise lautet: „Auf den Kapitalismus warten und dann alles legalisieren.“ Wolfgang Gast