„Da würde ich nicht 'mal ein Aspirin reinstecken“

Rupert Neudecks Notärzte-Komitee „Cap Anamur“ hat einen LKW-Konvoi mit Grundnahrungsmittel nach Sibirien geliefert/ Die Hilfsempfänger sind etwas ratlos: Sie hatten dringend benötigte medizinische Hilfsgüter erwartet/ Kohlehydrathaltige Lebensmittel sind vor Ort im Überfluß vorhanden  ■ Von Wolfgang Gast

Prokopjewsk (taz) — Wo 1.000 Kilometer keine Entfernung, minus 50 Grad keine Kälte und 100 Gramm Wodka kein Wodka sind, da ist Sibirien. Jewgeni Iwanowitsch Kolesnikow, in Irkutsk am Baikalsee geboren, ist stolz, ein Sibiriake zu sein. Vor 20 Jahren hat er an der Universität seiner Geburtsstadt Deutsch gelernt, und als er im Dezember vom deutschen Hilfskonvoi nach Prokopjewsk gehört hat, verschiebt er seinen Urlaub. Er will die Gelegenheit nutzen und seine Sprachkenntnisse verbessern.

Jewgeni Kolesnikow ist nicht irgendwer: Mit sechs Milizionären ist er kurz vor Weihnachten nach Brest an die polnisch-sowjetischen Grenze gefahren, um dem Hilfskonvoi auf seinem mühseligen Weg ins sibirische Kohlerevier bewaffneten Geleitschutz zu leisten. Darum gebeten hat ihn keiner. Als Hauptmann der Miliz in Prokopjewsk stellt er sich vor, doch angesichts der Machtfülle, die er während der 14tägigen Reise an den Tag legt, tippen die sowjetischen LKW-Fahrern und die deutschen Konvoibegleiter eher auf eine Mitarbeit beim sowjetischen Geheimdienst KGB.

Am Ende der Reise ist Jewgeni Kolesnikow geknickt. „Ölpflegetücher“, jammert er, „zwei Wochen haben meine Milizionäre und ich mit Maschinengewehren 70 große Fässer Ölpfegetücher bewacht.“ Was zunächst wie einer der zahlreichen Scherze des Hauptmannes klingt, entpuppt sich anhand der Frachtpapiere als Tatsache: Der LKW mit der Nummer eins hat 16 Paletten geladen, die ordentlich als „Ölpflegetücher“ gekennzeichnet sind. Es ist die Sachspende eines Kölner Kosmetikkonzerns, eigentlich zur Säuglingspflege bestimmt, die so ihren Weg in die 7.000 Kilometer entfernte westsibirische Kohlestadt findet.

Juri Rudolf, Mitglied des Arbeiterkomitees in Prokopjewsk und Abgeordneter des Gebietsrates im Kusnezkbecken weiß von dieser Spende noch nichts. Aber auch so erklärt er kurz und bündig, was auch anderswo gilt: „Wir haben in Rußland ein Sprichwort: Einem geschenkten Gaul schaut man nicht ins Maul.“ Wie die anderen im Arbeiterkomitee hat auch er mit dem Hilfskonvoi aus der Bundesrepublik auf die Lieferung dringend benötigter Medikamente und medizinischer Ausrüstung gehofft.

„Vor Hunger sterben wir nicht“

Doch statt medizinischer Hilfsgüter bringen die 15 Sattelschlepper, die das Notärzte-Komitee Cap Anamur über die sowjetische Spedition Sowtransawto geschartert hat, überwiegend Grundnahrungsmittel: Zucker, Mehl, Milchpulver, Salz und Tee. In der Ladung sind auch Babynahrung, Kinderkleidung und Schuhe. Natürlich, sagt Juri, freuen wir uns über diese Hilfe aus Deutschland. Aber, stellt er klar, „vor Hunger sterben wir nicht“.

Über 800 Millionen Mark haben die Bundesbürger seit dem Dezember an humanitärer Hilfe für die Sowjetunion gespendet. Die größte von privater Hand organisierte Hilfsaktion ist der vom Notärzte-Komitee in Troisdorf bei Köln organisierte LKW-Konvoi: 24 Sattelschlepper mit jeweils 20 Tonnen Zuladung, neun davon für Moskau und 15 für das weit entfernte, sibirische Prokopjewsk. Unterstützt wird die Aktion vom Sender Freies Berlin. Über zwei Millionen Mark haben die Rundfunkleute allein in Berlin unter dem Stichwort „Pomosch — Hilfe für Sibirien“ gesammelt, die auf das Konto der Notärzte-Organisation überwiesen wurden.

„Unsere Stadt ist nur schön, wenn es gerade geschneit hat.“ Witscheslaw Karpow, Vorsitzender des städtischen Arbeiterkomitees in Prokopjewsk, zeigt auf die qualmenden Schornsteine, die wie die zahllosen Fördertürme das Bild der Stadt mit ihren 280.000 Einwohnern prägen. Wie jeden Winter ist auch diesmal den Kindern zum Neujahrsfest in der Stadtmitte aus Eisblöcken eine 50 Meter lange Rutschbahn gebaut worden. Doch manchmal geht aus den ungezählten Schloten solche Mengen Ruß auf die Stadt nieder, daß an ein Rutschen auf der Eisbahn nicht zu denken ist.

Der Komiteevorsitzende versucht die Kritik seiner versammelten Kollegen abzuschwächen. Natürlich, sagt Karpow, sind wir dankbar für die Lebensmittel. Aber auch er räumt ein, „wenn ich ehrlich sein soll, wir warteten eigentlich auf eine Ladung mit medizinischem Charakter“.

Bereits im Frühjahr 1990 haben die Mitarbeiter des Notärzte-Komitees eine Hilfslieferung für die sibirische Stadt zusammengestellt. Und wie beim ersten Mal erfuhren die Mitarbeiter des Arbeiterkomitees von Prokopjewsk auch diesmal erst spät von der kommenden Hilfe. Kritisieren will Witscheslaw die Hilfsaktion nicht, die ihnen am 12.Dezember angekündigt wurde. Das wäre aus seiner Sicht „unbescheiden“. Über eine Dolmetscherin vor Ort sei ihnen allerdings die Ankuft von drei Flugzeugen mit medizinischen Material angekündigt worden.

Neudeck: „Da hört die Gemütlichkeit auf“

Anfang Januar ist davon seitens der deutschen Helfer aber nicht mehr die Rede. Rupert Neudeck, Gründer des Notärzte-Komitees, der in die sibirische Stadt Omsk geflogen ist, um den Konvoi auf seinen letzten 1.000 Kilometern bis nach Prokopjewsk zu begleiten, betont bei seiner Ankunft in der Bergarbeiterstadt, eine Zusage für Medikamente und medizinische Standard-Ausrüstung habe es zu keinem Zeitpunkt gegeben. Solche Güter, argumentiert er, könnten nicht so einfach geliefert werden. Wegen möglicher falscher Indikationen und Dosierungen höre hier „die Gemütlichkeit auf“. Bevor Tabletten, Pillen oder Einwegspritzen geschickt würden, „müssen wir erst genau wissen, wohin die Medizin geht“.

Rupert Neudeck hat kein Vertrauen in das Gesundheitssystem der Stadt. Im Bereich der medizischen Versorgung, diktiert er den Journalisten in den Block, sei es „zu so einer Fäulnis gekommen — da würde ich nicht mal ein Aspirin reinstecken“. Wer jetzt medizinische Güter liefere, könnte unversehens „der Produzent von Korruption sein“. Medizinische Hilfe könne geleistet werden, wenn die Bedingungen für die Einrichtung einer von deutschen Ärzten und Phamazeuten beaufsichigten Apotheke gewährleistet seien. Solche Bedingungen würden nun bei dem Aufenthalt in Prokopjewsk ausgehandelt.

Schwierigkeiten sehen die Mitarbeiter des Arbeiterkomitees auch bei der Verteilung der Hilfsgüter. Während die Nahrungsmittel zunächst in einem alten stillgelegten Bergwerksstollen eingelagert werden, wird in der Stadt noch über den Verteilungsschlüssel geredet. Wie ein Lauffeuer haben sich in der Stadt vor allem die Pannen bei der Hilfsaktion verbreitet. Etwa daß einer der LKWs in Moskau verwechselt wurde, und die für Prokopjewsk bestimmte Schokolade auf diese Weise in der sowieso schon bevorzugten sowjetischen Hauptstadt gestrandet ist. Die Verteilung der Lebensmittel dürfe man aber keinesfalls als zusätzliche Belastung für das Komitee begreifen, versichert Witscheslaw Karpow. Schließlich sei es eine der sozialen Aufgaben der Organisation, dafür Sorge zu tragen, daß die Hilfgüter den Bedürftigsten der Stadt zukommen. In der Bergarbeiterstadt gibt es viele Familien, deren Einkommen pro Kopf die offizielle Armutsgrenze von monatlich 78 Rubeln weit unterschreitet. Problematisch ist für die Mitarbeiter des Komitees aber, daß sie nicht eindeutig bestimmen können, wer arm ist oder nicht. In den Sozialämtern der Stadt sind nur die Merkmale „Rentner“ oder „Invalide“ aufgelistet. Wer davon zu den ganz Armen der Stadt zählt, läßt sich aus diesen Angaben allein nicht schließen.

40.000 Menschen leben direkt neben den Zechen

Eine Hungersnot wie zu Zeiten Stalins in der Urkraine schließt auch Pawel Puschkin aus. Nach dem großen Streik der Bergarbeiter ist der 47jährige Anhänger der Demokratischen Partei Rußlands von den Kumpels zum Betriebsgewerkschaftsleiter seiner Zeche gewählt worden. Als Mitglied des Arbeiterkomitees ist er darüber hinaus auch der Vorsitzende des städtischen Gesundheitsauschusses. „Ihr fahrt nicht umsonst“, versichert er, „auch wenn es keine Hungersnot gibt, Hunger gibt es bei uns doch.“

Zucker beispielsweise sei schon lange knapp, denn mit der Anti-Alkohol-Kampagne Gorbatschows sind die letzten Pakete aus den Regalen verschwunden. „Die Menschen“, sagt Pawel Puschkin lachend, „haben gelernt, aus allem Wodka zu brennen, nur aus Holzhockern noch nicht.“ Wie für Karpow gibt es auch für ihn Dringenderes als die Lebensmittelhilfe. Handlungsbedarf gebe es hinsichtlich der medizinischen Mangelversorgung, der Wohnungsnot und den katastrophalen ökologischen Folgen des Kohleabbaus.

Die statistischen Angaben zum Gesundheitswesen und zur Umweltbelastung sind in der Bergarbeiterstadt dürftig. Das Interesse an Umweltdaten war in der Vergangenheit denkbar gering. „Unser Unglück ist“, erklärt Valerie Alexandrowitsch Lebedjew, Leiter der epidemiologischen Sanitärstation in Prokopjewsk, „daß wir nur einen kleinen Teil der Schadstoffe überhaupt bestimmen können.“

In seinem Büro, unter einem Lenin-Porträt, bedauert er, daß die notwendigen Geräte und Labore ganz einfach fehlen. Neben den Zechen liegen die offenen Kohlelager und Abermillionen Tonnen Abraumgestein, die über die Jahre mitten im Stadtgebiet zu einer wahren Mondlandschaft aufgehäuft wurden: Hauptverschmutzer der Stadt. 40.000 der 280.000 Einwohner leben in unmittelbarer Nähe zu den zwölf Zechen, um die herum in den 30er Jahren die Stadt gebaut wurde.

Im Vergleich zu den Bewohnern der Neubausiedlungen, die mehrere Kilometer entfernt von den Schachtanlagen aufgebaut wurden, liegt unter den „Altstädtern“ die Zahl der allgemeinen Erkrankungen 55 Prozent über dem Durchschnitt. Chronische Erkrankungen der Atemwege sind bei Erwachsenen sogar um 66 Prozent häufiger. Schnelle Hilfe, meint Lebedjew, könnte nur die Umsiedlung der Familien aus der Zechennähe schaffen. Das hat sogar der Ministerrat der russischen Föderation bereits beschlossen. Aber die Umsiedlungsprogramme scheitern an der Wohnraumnot.

Neben der Kohle tragen auch die 318 Heizkraftwerke ihren Anteil zur Umweltverschmutzung bei. Nicht einmal 30 Prozent von ihnen sind mit den simpelsten Filtern oder sonstigen Abgasreinigungsanlagen ausgerüstet. Sorge bereitet dem Chefarzt der Sanitärstation auch, daß er die Schadstoffbelastungen der Arbeiter an ihren Arbeitsplätzen nicht einmal messen kann. Wegen der Explosionsgefahr in den Schächten wären teure, aus dem Ausland zu beziehende Meßgeräte notwendig — der chronische Devisenmangel erlaubt das nicht.

Die radioaktive Belastung, die an der Oberfläche der Schachtanlagen gemessen worden ist, beträgt rund 150 Millirem im Jahr. Der zulässige Grenzwert für die Bundesbürger wird damit bereits um das fünffache überschritten. In drei- bis vierhundert Metern Tiefe, in der die Kohle zum Teil noch mit der Technik aus den dreißiger Jahren abgebaut wird, dürften die Werte noch ein vielfaches betragen, schätzt Lebedjew. Als typische Berufskrankheiten der Bergleute listet er Staublunge, chronische Erkrankung der Atemwege, bleibende Gehörschäden und Gleichgewichtsstörungen auf. Und obwohl er über keine statistischen Angaben verfügt, ist der Chefarzt weiter überzeugt, daß die Rate der Krebserkrankungen unter den Kumpels die der Durchschnitsbevölkerung um ein mehrfaches übersteigt. Während das durchschnittliche Lebensalter der männlichen Bevölkerung in der UdSSR bei 64 Jahren und der Frauen bei 74 Jahren liegt, erschöpft sich die statistische Lebenserwartung der Kumpels bei ganzen 49 Jahren.

In diesem Jahr nur 19 Prozent der benötigten Medikamente

Medikamente fehlen auch in der Unfallklinik von Prokopjewsk. Auf der Intensiv-Station des 560-Betten- Krankenhauses liegen drei Schwerverletzte. Unter ihnen ein Bergmann, der nach einem Arbeitsunfall „beinahe als Leiche“ eingeliefert wurde. Die diensthabende Stationärztin ist überzeugt, daß er seine schweren Hirn- und Lungenverletzungen überleben wird. Wenn er dann aber auf die normale Krankenstation verlegt werden kann, werden die Vorräte an kreislaufstabilisierenden Medikamente aufgebraucht sein. Für das Jahr 1991, wurde der Medizinerin mitgeteilt, könne sie nur noch mit einer Zuteilung von 19 Prozent der von ihr benötigten Medikamente rechnen.

Auch der Sanitärstation wurde vom Gesundheitsministerium mitgeteilt, daß im laufenden Jahr nur 40 Prozent des allgemeinmedizinischen Bedarfs gedeckt werden können. Die Mangelware, so will es der Stationsleiter, soll in erster Linie den Kindern zugute kommen: „Für die anderen wird da nur wenig übrig bleiben.“

Sein Appell an die Zechendirektionen, aus ihren Etats die medizinische Grundversorgung sicherzustellen, blieb bislang erfolglos. Medizinische Ausrüstung, sagen die Kohlechefs, stehen nicht auf der Liste der Waren, die im Ausland gegen den sibirischen Rohstoff Kohle eingetauscht werden könnte.

Eine weitere Sorge der Stadtverwaltung ist aber auch die Nahrungsmittelversorgung der Bevölkerung. Es ist weniger die Quantität als die Qualität der Lebensmittel, die Chefarzt Lebedjew kritisch begutachtet. Ihm fehlen die Möglichkeiten, die Lebensmittel aus der Region toxikologisch zu untersuchen.

Als Mitglied des Exekutivkomitees der Stadt hat sich Valerie Lebedjew Gedanken gemacht, „weil ich nicht wußte, welche Hilfe unsere ausländischen Freunde leisten werden“. Wenn sie schon glaubten, Lebensmittel liefern zu müssen, dann sollten es seiner Meinung nach in erster Linie Gemüse, Obst und Frischprodukte sein. Daß mit diesem Konvoi aber Zucker, Mehl und Reis nach Prokopjewsk gekommen sind, hält er für „wenig durchdacht“. Echten Mangel habe es in letzter Zeit etwa bei der Milch gegeben. Doch Kohlehydrate gebe es in der Stadt im Überfluß.

Als Mitglied der Stadtverwaltung, sagte er, habe er sich denn auch so manche Klage anhören müssen: „Entschuldigen Sie, aber die Leute verstehen das nicht ganz. Es gibt hier keine offene Hungersnot.“ Und obwohl auch in Prokopjewsk seit Anfang des Jahren für alle wichtigen Lebensmittel Bezugsscheine ausgegeben werden, fragten doch immer mehr BürgerInnen: „Was soll das? Ist es eine Aktion der Erniedrigung unserer Leute?“ Für den Fall weiterer Hilfaktionen — sie wurden vom Notärzte-Komitee für die nächsten Monate bereits in Aussicht gestellt — wünscht sich der Chefarzt, „daß unseren Nöten mehr Aufmerksamkeit entgegengebracht wird“.