„Wer soll die Zukunft retten, wenn nicht wir“

Die zuvor als unpolitisch gescholtenen SchülerInnen bilden die Avantgarde des Protestes  ■ Von Walter Jakobs

Bochum(taz) — Bochumer Autofahrer sind inzwischen gewarnt. Ortskundige umfahren die Innenstadt, meiden den Bahnhofs- und Rathausbereich, der seit drei Tagenjeden Vormittag fest in SchüerInnenhand ist. In Dortmund waren am Mittwoch 10.000 SchülerInnen auf der Straße, in Düsseldorf oder in Essen sieht es nicht viel anders aus. Zehntausende im Alter von acht bis zwanzig sind täglich unterwegs. Ein unerwartetes Coming-out der seit Jahren als unpolitisch gescholtenen Kids.

Was und wer treibt sie an? Die Landesschülervertretung (LSV), sonst immer der zentrale Organisator des schulischen Protestes, ist es jedenfalls nicht. „Wir wundern uns auch“, heißt es bei der LSV in Düsseldorf. Neugierige Journalisten werden auf die Bezirksebene verwiesen, „vielleicht wissen die, wo was läuft“. Doch auch dort ist man nicht viel schlauer. „Wir kapieren das selbst nicht“, sagt ein Bezirksschülervertreter aus Dortmund. „Die rennen einfach raus. Selbst die Schülermitverwaltung wird überrumpelt und die Lehrer werden erst gar nicht großartig gefragt.“

Britta Kasten (16), von der Erich- Kästner-Gesamtschule in Bochum, blockiert am Freitag unter den Augen der Polizei schon zum drittenmal eine zentrale Kreuzung. „Morgen komme ich wieder, denn wie soll die Zukunft gerettet werden, wenn wir das nicht machen? Es geht doch um unsere Zukunft.“ Vielleicht, sagt die 15jährige Nicole Bannenberg, „nutzt das alles nichts, aber wenn man demonstriert, hat man wenigstens das Gefühl, etwas zu tun“. Protest nicht nur wegen des tausendfachen Todes im Kriegsgebiet selbst, sondern aus Angst um die eigene Zukunft, aus unmittelbarer Sorge um die Lebensperspektive auf diesem Globus schlechthin — das scheint das zentrale Antriebsmotiv bei den Jugendlichen zu sein.

Sie fürchten existentiell um ihre Lebenschance, was sich auf einem mit Totenkopf und Kreuzen illustrierten Flugblatt so liest: „Wir werden nicht alt durch Waffen & Gewalt.“ Lars Wortelmann (18) von der Waldorfschule in Bochum-Langendreer erklärt sich das außergewöhnlich breite Engagement damit, „daß es noch nie in unserer Generation eine so bedrohliche Situation gegeben hat“. Um so wichtiger sei es jetzt zu erfahren, „daß man nicht allein darsteht“. Er hofft, daß die Demonstrationen überall in der Welt den Regierungen „einen Wink“ geben, „vielleicht schnell zu reagieren“.

Den von einigen Passanten in den letzten Tagen immer wieder vorgebrachten Vorwurf, die DemonstrantInnen schlügen sich mit ihren Aktionen auf die Seite des Aggressors Saddam Hussein, lassen die SchülerInnen nicht gelten. Zwar seien die Demonstrationen zu spät gekommen, „aber man hätte den irakischen Diktator auch durch scharfe Sanktionen statt durch Krieg zurückdrängen können“. Für Lars Wortelmann ist die These vom „reinen Befreiungskrieg“ im Interesse der Kuwaitis ohnehin nicht glaubwürdig: „Die Amerikaner hätten bestimmt anders reagiert, wenn es dort um Apfelsinen und nicht um Öl gegangen wäre.“ Völlig unterschiedlich reagieren die LehreInnen auf die Proteste derSchülerInnen.

Während Friedrich-Karl Schmidt, Rektor der Erich-Kästner- Gesamtschule, seine SchülerInnen, die zu den aktivsten in Bochum gehören, in die Stadt begleitet und ihren Protest „ganz toll“ findet, reagieren andere Schulen mit Repressionen. Geni Holz (16), vom Graf-Engelbert-Gymnasium, muß mit einem „Tadel“ rechnen. In ihrer Schule wurden sogar die Klassen zeitweise abgeschlossen, um das Verlassen der Schule zu unterbinden. Geni Holz, die nie zuvor auf einer Demo war, ist trotzdem gekommen, „denn das ist jetzt wichtiger als in der Schule oder zu Hause zu sitzen“. Das sieht die 13jährige Nadine Nonnenbroich nicht anders. Sie erzählt von einer 11jährigen Mitschülerin, die in den letzten Tagen immer geweint habe und nicht zur Schule wollte, weil „jetzt am Golf viele Kinder sterben“.

Ganz oben in der Schulhierarchie, im Düsseldorfer Kultusministerium, sieht man das inzwischen wieder ganz anders. Noch am Donnerstag hatte Kultusminister Hans Schwier für Verständnis geworben und alle Schulen aufgefordert, das Fernbleiben nicht als unentschuldigtes Fehlen zu werten. Am Freitag lautete die Order: „Ab sofort ist wieder normaler Unterricht. Lehrer, die sich jetzt noch an Demonstrationen während des Unterrichts beteiligen, müssen mit disziplinarischen Konsequenzen rechnen“.

Rektor Schmidt, von dem Engagement seiner SchülerInnen begeistert, wird sich etwas einfallen lassen müssen, falls die SchülerInnen am Montag erneut nach draußen drängen. Schmidt — „das Gerede von der desinteressierten, unpolitischen Jugend erweist sich jetzt Gott sei Dank als falsch“ — hält es für seine Pflicht, seine Schützlinge nicht allein in die Stadt ziehen zu lassen.Ganz gleich, was Schwier auch sagt, der ungewöhnlich heftige Protest aus den Schulen ist nicht zu Ende. Die 16jährige Sandra Bleiweiß: „Man kann sich den Krieg doch nicht nur am Fernsehen angucken. Da wird man doch wahnsinnig.“