Marschallplan für's Baltikum

■ Juris Rosenvalds ist Historiker und Vertreter der Bremer Partnerstadt Riga

taz: In der letzten Zeit hat sich Gorbatschow für eine zunehmend brutale Vorgehensweise im Baltikum entschieden. Ist das nun das Ende der Perestroika?

Juris Rosenvalds: Das ist das logische Resultat seiner Politik. Gorbatschow hatte immer eine sehr begrenzte Auffassung von Perestroika. Seine Perestroika sollte das Imperium und das Monopol der KPdSU erhalten. Er wollte immer nur die Fassade der UdSSR verschönern.

Auch im Baltikum hat man ihn doch lautstark unterstützt.

Ja, bis zu einer gewissen Grenze. Aber jetzt gibt es tiefliegende Meinungsverschiedenheiten zwischen Gorbatschow und den Volksbewegungen der baltischen Republiken. Uns geht es um Demokratisierung aller Republiken.

Die baltischen Republiken haben einen Vertrag mit Rußland abgeschlossen. Worum geht es dabei?

Das ist kein richtiger Vertrag, sondern eine Deklaration, in der die gegenseitige Souveränität und Unabhängigkeit jeder Republik festgelegt wurde.

Wäre es nicht besser, Kompromisse zu machen, um die Situation nicht weiter zu verschärfen?

Hier muß man genau unterscheiden. Gorbatschow will, daß Moskau den Republiken sagt, welche Vollmachten sie haben. Das ist praktisch der neue Aufguß des alten Unionsvertrag. Die Vereinbarungen aber, die zwischen den Republiken abgeschlossen werden, sind der Anfang einer Union von unten. Wir im Baltikum hatten ja bereits einmal einen unabhängigen Staat und wollen auch jetzt nicht darauf verzichten.

Was für eine Rolle spielt der Westen bei dem Unabhängigkeitskampf des Baltikums?

Der Westen hat sich zu einseitig auf Gorbatschow konzentriert und ihn fast bedingungslos unterstützt. Man hat hier nicht begriffen, daß sich in der UdSSR ein zweites Machtzentrum herausbildet, die mehr oder weniger demokratisch gewählten Regierungen der Republiken. Der Westen hätte sich auf beide orientieren müssen, so wäre eine Art Balance der Kräfte entstanden. Die einseitige Orientierung führte zu einem Patt mit Moskau, nachdem das Baltikum seine Unabhängigkeit verkündet hatte. Es lief gar nichts mehr. Auch der Westen hat nichts getan. Und das führte zur Stärkung der radikalen Kräfte.

Was hätte zum Beispiel die BRD konkret tun können?

Man hätte direkte Beziehungen zu den neugewählten Regierungen des Baltikums aufbauen können. Außerdem: Die ganzen Milliarden, die der Sowjetunion gegeben wurden, verschwinden in einem großen schwarzen Loch, weil es bis heute keine grundlegenden wirtschaftlichen Veränderungen gibt. Im Baltikum ist die Wirtschaft überschaubarer, hier kann man überprüfen, was mit solchen Geldern passiert. Deshalb könnte das Baltikum ein Beispiel dafür werden, wie auch die restliche UdSSR aus dieser Struktur rauskommen könnte. Es sollte so einen kleinen Marschall-Plan für das Baltikum geben.

Sie kommen aus Riga, der Partnerstadt Bremens. Hat Ihnen der Partnerschaftsvertrag genützt?

Alfred Rubriks, langjähriger Vorsitzender des Stadtsowjets, der immer direkten Kontakt mit den Bremer Politikern hatte, ist jetzt der Leiter der moskautreuen komunistischen Partei und einer der konservativsten Politiker in Lettland. Inzwischen ist er sogar der Vorsitzende des „Komitees für die nationale Rettung“, die faktisch gegen die rechtmäßig gewählte Regierung auftritt. Er vertritt heute selbst in der KPdSU den konservativsten Flügel.

Was erwarten Sie von ihrer Partnerstadt?

Zuerst möchte ich sagen: Wir brauchen keine Hilfe, die aus Paketen und Lebensmitteln besteht. Riga braucht vielmehr intellektuelle Hilfe, know how, Bücher und Solidarität. Wir wollen, daß die Menschen in Bremen verstehen: Was bei uns im Baltikum passiert, ist der Versuch eines Staatsstreiches. Und Alfred Rubrik ist jemand, der gegen unsere gewählte Regierung agiert. Jede Regierung kann natürlich Fehler machen, aber das ist noch lange kein Grund, die Armee zu holen und einfach die Regierung abzusetzen. Solidarität brauchen wir. Fragen und Übersetzung:

Birgit Ziegenhagen