Sie tuscheln miteinander

■ Noch sterben die Menschen wirklich — Notizen aus einem Berliner Kriegstagebuch

Draußen spielen Kinder Krieg, und ich frage mich, ob ich die Ereignisse noch in der richtigen Reihenfolge berichten kann. Ständig flackern Déjà-Vus im Hirn, und auf den Bildschirmen. Die Bildschirme, mit denen fing es wohl an. Während wir uns noch im Bett vergnügten, lief bei Karl schon der Videorecorder heiß, am 17. Januar. Seit Tagen lauerte er vor seinem TV auf den Kriegsausbruch. Hatte mit einigen Freunden eine Telefonkette aufgebaut, so daß sie abwechselnd auch mal schlafen konnten. Als ich Karl besuchte, hatte er drei Fernseher um sich herum aufgebaut, alle an einen VCR angeschlossen und nahm den Krieg auf. »CNN macht eine Seifenoper«, sagte er, »und ARD und ZDF haben sich erstaunlich spontan und flexibel gezeigt.« Karl geht es um die Geschichte, mit dem Zugang zu kapitalen Informationsmärkten sei es ihm erstmals in der Geschichte möglich, diese live zu archivieren. Für spätere Generationen, Geschichte von unten, glaubt er.

Karl ist sicher nicht der einzige, der sich dieser Tage an die Medien anschließt. Aufgeklärt-kritische Meinungsbildner sprechen sogar von einem »Medienkrieg« — das hätten sie wohl gerne. Noch sterben die Menschen wirklich, auch wenn davon auf den Bildern wenig zu sehen ist. Wie überhaupt auf den Bildern wenig zu sehen ist, in den ersten Stunden. Da gibt es Landkarten und Standfotos von Journalisten, im Hintergrund dröhnt meist das Rauschen des Realen, die Störungen in den Telefonleitungen. Und als sei all das wirklich und wesentlich senden die TV-Stationen dasselbe immer und immer wieder.

Mit aufgeregter Stimme verlesen Moderatoren Meldungen, als würden sie endlose Mantras sprechen. Da gibt es denn auch die ersten Djà- Vus — in den folgenden Tagen wird es zunehmend schwieriger, das Aktuelle von den Wiederholungen zu unterscheiden.

Nun, aber es gibt ja auch das Radio. Fühlt sich das globale Dorf vernetzt und entwickelt planetares Bewußtsein, während Stimmen aus der Ferne um einen herumfließen und Bilder im Kopf erzeugen. In den ersten Stunden siegt das Radio. Und es gibt Computer und Computernetze. Fred ist mal wieder stinksauer, daß er nicht in den USA lebt. Er hat über e-mail von einem jüngst auf den Markt geworfenen Computerspiel erfahren: »Irakattack«. Dabei handelt es sich um die ausgefeilte Simulation der echten »electronic battlefields« in den Kommandozentralen der kämpfenden Parteien. Länder und Truppen sind aufgeführt, und der besondere Service der Firma, die »Irakattack« entwickelte, ist, daß sie täglich die neuen Daten aus der Wirklichkeit nachliefert. Wer an ein Computernetz angeschlossen ist, dem werden sie gleich direkt in die Maschine eingespeist.

Dieses System wäre wohl auch für Michael von großer Hilfe. Er organisiert Telefon-Wetten: Wann wird der nächste amerikanische, irakische Angriff erfolgen? Wo? usw. Michael selbst liegt dann mit Lineal und Taschenrechner über einem Diercke- Weltatlas und berechnet Zeitzonen, die Geschwindigkeit der eingesetzten Waffen usw. Hat schon mal gewonnen, sein Tip war nur fünf Minuten von der faktischen Angriffszeit unterschieden. Andere Menschen, deren Kriegsbild nicht so sehr aus Pixeln zusammengesetzt ist, bilden Selbstmörderklubs. In der U-Bahn tuscheln sie miteinander, geheimnisvoll, werfen verschwörerische Blicke in die Runde. U-Bahn-Fahren muß für sie unerträglich sein. Scheint dort alles seinen gewohnten Gang zu nehmen, während im Bewußtsein von den Rändern her das Grauen einsickert.

Liebes Tagebuch, du siehst, ich komme etwas durcheinander mit der Reihenfolge der Ereignisse. Muß dir auch von Peter und Silke erzählen, die ebenfalls seit den ersten Stunden an diverse Nachrichtenübertragungsapparate angeschlossen sind. Ihnen geht es weniger um die historische Dimension des Kriegs als um seine mediale Präsenz. »Als in Rumänien die Revolution stattfand, wurden wir weltweit mit Bildern überschwemmt, die sich dann hinterher als Manipulationen erwiesen. Wir sahen die Opfer von Massakern und andere Spuren der Schreckensherrschaft des Ceaucescu-Regimes. Und wir sahen eine Tele-Vision, Tele-Revolution. Entsinnst du dich an das besetzte Fernsehstudio? Also, worauf es ankommt, ist, daß uns damals Bilder gezeigt wurden, heiße Bilder, hemmungslos übertrieben. Es gab Berichte von 80.000 Toten. Nun, hier beim Golfkrieg ist alles ganz anders. Beide Parteien zensieren, besitzen die Macht, das öffentliche Bild zu besetzen. Wo in Rumänien eben die manipulierten Schreckensbilder das Aktuelle bestätigen sollten, da tut es nun die Zensur. Man will dem Gegner keine Informationen über mögliche Ziele zukommen lassen usw. Du weißt ja auch, daß es in den ersten Kriegsstunden überhaupt kein Bildmaterial gab. Statt dessen sendeten die Stationen »Archiv-Material«, Werbefilme der US- Army. Um dann die Null-Meldungen immer wieder aufs Neue zu wiederholen. Da schien das Ereignis unter der Last der »Bilder« zu ersticken, wogegen es in Rumänien durch diese erst richtig in Schwung kam. Du siehst, worauf wir hinauswollen, ja? Wir bereiten ein Symposium vor.

Habe gerade im Rundfunk die Meldung gehört, Präsident Bush hätte einen Film von der Bombardierung Bagdads gesehen. Aufgenommen mit der Kamera, die im Abwurfschacht des Flugzeuges angebracht war. Bush sei höchst zufrieden gewesen. Sicher, liebes Tagebuch, du denkst jetzt an Virilio, aber ich möchte dir etwas ganz anderes erzählen. Weißt du von diesem Bomberpiloten, der über Hiroshima die Atombombe abwarf? Der berichtete hinterher von in erster Linie visuellen Sensationen. Dann gibt es noch eine Untersuchung zu Hörgeschädigten, denen man ein emotionales Manko bescheinigt, ja; Emotionen gehen über das Ohr in die Vorstellungen ein, während das Auge kalt ist, kalt und pervertiert. Und nun denke an das blicklose Sehen einer Kamera, die den Bombenabwurf auf Bagdad festhält, die visuellen Effekte, und wie US-Präsident George Bush den so entstandenen Film sieht und seine Zufriedenheit äußert. Und wie die ganze Menschheit vor Bildschirmen hockt, in der Annahme, sie würden etwas über reale Vorgänge erfahren...

Vor ein, zwei Monaten waren russische UFO-Forscher in der Stadt. Die behaupteten, über Kuwait seien UFOs gesichtet worden. Der Vater von Peter gibt sich auch russisch bedingten Einbildungen hin. Er sieht eine bevorstehende Sowjet-Invasion in Westeuropa. Draußen spielen die Kinder immer noch Krieg. Rudi Stoert