Clausewitz im „Wüstensturm“

■ Der französische Philosoph und Kriegsdenker Paul Virilio über Golfkrieg und Medienschlacht/ „Ein Live-Krieg ist nicht zu gewinnen“/ Blitzkrieg versus Intifada/ Der Hauptgegner der Friedensbewegung muß der US-Nachrichtenpool sein

Paul Virilio ist Urbanist und Techniksoziologe. Er hat verschiedene Bücher über Geschwindigkeit, Krieg und Kommunikation veröffentlicht. Auf deutsch sind unter anderem erschienen „Geschwindigkeit und Politik“, „Der reine Krieg“ und die „Ästhetik des Verschwindens“. Nachdem Virilio bereits zu Beginn der Golfkrise über die militärstrategische Bedeutung eines Mediums wie CNN geschrieben hatte (taz, 29.9.1990), hielt er sich nach dem Angriff auf Bagdad überwiegend vor dem Fernseher auf. Nach zwei Nächten Medienkrieg trafen wir ihn dann am Freitag in der Pariser Brasserie „La Coupole“.

taz: Der Krieg am Golf ist der erste Live-Krieg. US-Journalisten sitzen mitten im Zielgebiet, übertragen ihre Informationen nach Atlanta, von wo aus diese um die Welt geschickt werden — unter anderem in die Bunker der angegriffenen irakischen Generäle. Welche Bedeutung hat dieser kommunikative Kurzschluß?

Paul Virilio: Es ist tatsächlich der erste Krieg in Echtzeit, also der Krieg der absoluten Geschwindigkeit. Und das ist nichts anderes als die absolute Gewalt. Die früheren Gesellschaften haben mit relativen Kriegsgeschwindigkeiten gearbeitet, mit dem Pferd, der Artillerie, Panzern etc. Heute setzt man im Irak lasergesteuerte Waffen ein, elektromagnetische Störwellen und satellitengestützte Telekommunikation. Ob es sich um Informationen für das breite Publikum oder für den Generalstab handelt, spielt keine Rolle; entscheidend ist, daß es sich um absolute Geschwindigkeiten, also um absolute Gewalt handelt.

Wir haben es mit einer militärischen Situation zu tun, die das Resultat der Eroberung der absoluten Geschwindigkeit ist. Die absolute Waffe ist nicht mehr allein das absolute Explosiv, die Atombombe, sondern auch die „Zeit-Bombe“, die die Zeit zerstört. Die präsente Zeit wird durch die Live-Informationen zerstört. Live — das ist die Zeit-Bombe.

Dennoch schwebte die Atombombe von Beginn an als Drohung über der Golfkrise.

Die Atombombe war zunächst eine Waffe massiver Zerstörung. Dann hat man die thermodynamische Zerstörungskraft beibehalten, aber die Waffe präziser gemacht, schneller und kontrollierbarer, etwa durch die Lasersteuerung. Der absoluten Waffe wurden absolute Vektoren hinzugefügt. Es gibt drei Phasen in der Rüstungsgeschichte. Zuerst gab es die Behinderungswaffen, Festungen, Mauern, Rüstungen etc. Eine Festung war eine absolute Waffe, uneinnehmbar durch Katapulte und Pfeile. Dann trat die Artillerie auf: die Zerstörungswaffen. Man baut zwar weiterhin Bunker, aber die bieten keinen absoluten Schutz mehr. Mit der Atombombe beginnt die dritte Phase: die Ära der Kommunikationswaffen.

Militärische Kommunikation hat es natürlich schon immer gegeben: Brieftauben und Spione. Aber sie waren nicht kriegsentscheidend. Seit vorgestern nun erleben wir den ersten totalen elektronischen Krieg der Geschichte: die Kommunikationswaffen dominieren über die Zerstörungswaffen. Das ist das Allerwichtigste an dieser Situation, die wir jetzt erleben.

Von jetzt an besteht die Abschreckung nicht mehr in der Bombe, sondern der Fähigkeit, all die Satelliten, Awacs, Laser, elektromagnetischen Störsender einsetzen zu können. Die Amerikaner hatten eine totale Kontrolle des elektromagnetischen Raums über dem Irak, so daß keine Verteidigung möglich war. Und zwischen Störsendern und CNN gibt es keinen großen Unterschied; es handelt sich um die gleichen Kommunikationstechniken.

Nichtsdestotrotz gibt es auch bei diesem Krieg Sieger und Besiegte. Und sehr reale Opfer.

Ein Krieg in Echtzeit kann natürlich im Realraum gewonnen werden;aer zugleich verloren in der Echtzeit der Mentalitäten. Es gibt zwei Fronten: eine auf dem Kriegsschauplatz und eine andere auf dem Bildschirm. Wir sitzen vor diesem Bildschirm wie auf den Tribünen eines Stadions, wie die Fans von zwei Fußballklubs. Ajax gegen Bayern München. Die Spieler spielen in Echtzeit, und alle außen herum sind Zuschauer. Und was passiert nach dem Schlußpfiff? Die Zuschauer massakrieren sich. Dieser Echtzeit-Krieg wird von einer Seite oder der anderen gewonnen werden, logo. Aber rings herum werden sich die Leute massakrieren wie in Heysel.

Das heißt: Die Techniken der Echtzeit sind von den Kriegsführenden nicht kontrollierbar. Der Effekt der Mondialisierung wie CNN ist nicht zu kontrollieren. Heute haben wir Informationen in Echtzeit für die ganze Welt! Also wird es auch die ganze Welt sein, die diesen Krieg verliert. Der Kommunikationskrieg zerstört die Mentalitäten, die Errungenschaften der Zivilisation, die Toleranz zwischen den Völkern.

Noch nie hat sich eine Öffentlichkeit so lange auf einen Krieg vorbereiten können. Fünf Monate lang wurde verhandelt, wurden Szenarien entwickelt, Positionen erwogen und bezogen, dann dieser Satz des CNN-Korrespondenten Bernard Shaw aus Bagdad, „hier passiert jetzt etwas“ — endlich. Die Diplomaten hatten aufgegeben und ließen die Militärs machen, als hätte Clausewitz das Drehbuch geschrieben.

Ich fürchte, daß dieser Krieg kein Clausewitz-Krieg mehr ist. Er ist nicht mehr die Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln. Die Ziele des Krieges können micht mehr mit den Mitteln des Krieges erreicht werden. Natürlich geht es auch um Politik, aber dieser Aspekt ist zweitrangig gegenüber dem Entwicklungsstand der Technik. Die Waffentechnik hat eine Autonomie erreicht, durch die die Politik mitgerissen wird. Da ist nicht nur die Bombe, sondern ebenso die Peripherie der Bombe. Die Satelliten, Missiles, Analyseprogramme etc. sind ebenfalls absolut geworden und entziehen sich der politischen Intelligenz.

Es ist kein politischer Krieg, und es wird keine Sieger, sondern nur Besiegte geben, wie im Iran-Irak-Krieg oder in Afghanistan. Denn es gibt viele Arten, besiegt zu sein. Man kann sein Leben verlieren, in Armut verfallen oder seine Intelligenz und Entwicklungsfähigkeiten verlieren. Die USA sind ein verlorenes Land im Vergleich zu Japan und Deutschland. Es genügt, durch die amerikanischen Städte zu laufen, um sich davon zu überzeugen, wie desintegriert dieses Land ist. Es ist nicht viel besser dran als die Sowjetunion.

Dem Fernsehzuschauer wurde in den ersten Sondersendungen mitgeteilt, daß dieser Krieg die reine Form des schnellen, „chirurgischen“ Blitzkriegs sei. Der „Wüstensturm“ als perfekter Krieg, als ein schneller, schmerzloser Schnitt. Das sieht heute anders aus. Aber selbst, wenn die US-Generäle diesen Krieg gewinnen würden, wäre damit nichts gewonnen, weil eine Pax americana im Nahen Osten nur zur generellen Intifada führen würde, zur langsamen, atechnologischen Guerilla. Ist die Intifada nicht letztlich kennzeichnender für die Situation als die Operation „Wüstensturm“?

Absolut. Es ist ein „Blitzkrieg“, der mehrere Jahre dauern wird. Der Krieg in Echtzeit wird die Zuschauer zu Kombattanten machen, und das nicht nur im Maghreb. Alle werden verlieren, gewinnen wird der allgemeine Bürgerkrieg, die Intifada. Das wird losgehen, wenn Israel jetzt zurückschlägt — überall im Nahen Osten und im Maghreb. Dann im Süden der Sowjetunion und natürlich in Europa mit seinen Immigranten.

Ich befürchte die „Sizilianisierung“ der Welt. Ein politisch-militärisches Chaos, in der die Militärs wie eine techno-szientische Mafia funktionieren. Die Entwicklung der Waffen bringt neue Paten hervor, technologische Superpaten, die das Material verwalten und uns erpressen. Der Irak-Krieg ist nicht ohne Grund ein Krieg zwischen zwei Männern, die in meinen Augen völlig apolitisch sind. Saddam Hussein ist kein Politiker, sondern ein Clanführer. Und Bush? Ein Chef des CIA — kein Politiker. Kein Redner, Taktiker, kein listenreicher Odysseus. Mitterrand hat noch etwas davon; er hat sein Spiel gespielt bis zuletzt. Aber dies ist kein politischer Krieg mehr.

Welche Bedeutung hat der Aufruf Saddam Husseins zum Heiligen Krieg noch in einem Krieg der absoluten Geschwindigkeit?

Es gibt nicht nur einen Integralismus, am Golf stehen sich zwei gegenüber: der mystische, sei er nun islamisch, jüdisch oder christlich — und ein technischer Integralismus. Die Frage ist also: Heiliger Krieg oder reiner Krieg? Der technische Integralismus führt den reinen Krieg. Wir beten in einer Idolatrie das letzte Missile an, den neuesten intelligenten Satelliten. Der metaphysische Gott gegen den technischen Gott, den Deus ex machina. Der reine Krieg ist die absolute Waffe, die absolute Geschwindigkeit, der Krieg der göttlichen Technik. Die Heiligkeit Gottes gegen die Reinheit des Materials. Und all das im Heiligen Land! Es ist doch sonderbar zu sehen, wie die neueste Technologie die Eigenschaften Gottes verkörpert: Allgegenwart, Augenblicklichkeit, Allwissen etc. Halleluja!

Die Lichtgeschwindigkeit ist Gott. Sie bestimmt über das trading die Kurse in Wallstreet, sie ermöglicht die totale Weltinformation CNN. Ich werde nie jenes Bild vergessen, als die Matrosen der „Wisconsin“ den Abschuß eines Tomahawk-Missiles beklatschten. Wow! Ein fliegender, intelligenter Roboter, der seinen Weg noch durch ein Schlüsselloch findet. Das ist viel schrecklicher als seine Explosion.

Welche Konsequenzen hat dieser Krieg für die bisherige Strategie der Abschreckung?

Die Zeit der bipolaren Abschreckung zwischen Ost und West ist vorüber. Jetzt gibt es zwei Möglichkeiten: entweder die monopolare Abschreckung durch die UNO (bzw. die USA) oder die nukleare Proliferation, also die multipolare Abschreckung. Mitterrand hat am 14.Januar 1991 etwas gesagt, das mir für die Zukunft wichtiger zu sein scheint als die Frage der (selbstverständlich notwendigen) Palästina-Konferenz: „Die nukleare Proliferation ist nicht allein ein Problem, das den Irak betrifft. Es geht um den Erhalt der ganzen Welt. Auf die Gefahr hin, sie zu schockieren, habe ich den Amerikanern gesagt, daß wir eine internationale Konferenz brauchen, um die Verbreitung nuklearer Waffen zu verhindern. Sonst fliegt alles in die Luft. Das wirkliche Problem hinter dem Golfkrieg ist nicht das Öl, sondern die Frage: Wer darf die absolute Waffe besitzen? Soll man der UNO die Bombe geben? Franzosen haben sogar „blaue Satelliten“ vorgeschlagen, wie die „Blauhelme“, die die Erde kontrollieren sollen — sobald ein Volk nicht brav ist — zack! Wie bei Orwell. Oder wird man die Abschreckung teilen, anders gesagt: Wird es ein, zwei, drei, viele Pakistans und Iraks geben? Totale Abschreckung durch eine Macht, sei es die UNO oder die USA — oder aber die Aufteilung der Abschreckung unter alle. Alle anderen Probleme, das Öl oder der Nord-Süd-Konflikt, sind dieser Frage nachgeordnet.

Und welche Alternative darf sich die Friedensbewegung wünschen? Was tun?

Vor allen Dingen gewaltfrei handeln. Man darf auf keinen Fall den Bürgerkrieg in Demonstrationen für den Frieden hineintragen. Eine Gewalt der Massen kann heute kein Mittel mehr sein, Frieden zu stiften. Es werden doch zwei Kriege geführt. Einer im Irak, der andere in den Mentalitäten auf der ganzen Welt. Man muß sich engagieren für den Frieden im Golf und für den Frieden in unseren Straßen.

Aber es reicht doch nicht aus zu demonstrieren. Würden Sie einen Soldaten zum Desertieren aufrufen?

Nein. Weil er Berufssoldat ist.

Es gibt auch Reservisten am Golf.

Nicht bei den französischen Truppen. Und überhaupt: darauf warten sie ja nur. Bei den heutigen technischen Mitteln im Krieg braucht man keine Menschen mehr. Der militärisch-industrielle-wissenschaftliche Komplex sagt doch: „Desertiert nur, Freunde. Wir brauchen euch nicht mehr. Überlaßt uns die Gewalt und werdet Zuschauer, dann könnt ihr euch gegenseitig massakrieren, wenn ihr wollt.“ Nein, man darf nicht desertieren, sondern muß seinen Anteil an der Gewalt einfordern. Demokratie bedeutet auch die Teilung der Gewalt. In Frankreich sagen sie jetzt: Eine Dienstpflicht bringt nichts, wir brauchen eine Berufsarmee mit ultrasophistiziertem Material. Wir sind citoyens-soldats und akzeptieren keine Missiles und intelligenten Satelliten. Die absoluten Waffen des reinen Krieges bedeuten die Konzentration der Gewalt. Wenn ich meinen Anteil an eine Berufsarmee oder — noch schlimmer — eine Waffentechnologie abgebe, gibt es keine Demokratie mehr.

Sie beschreiben gerade genau die Volksmilizen Saddam Husseins.

Nicht ganz. Dort ist es ein Krieg der Menschen — aber mit einem Tyrannen an der Spitze, keine Demokratie. Als die Bürger Athens in den Krieg zogen, stellten sie sich vor den Feind und sangen: „Wir sterben für das Recht und für die Polis!“ Auch das war die Demokratie. Der reine Krieg nimmt dem Menschen die notwendige Gewalt, die aus ihm einen freien Menschen in einer Polis der Gleichen macht. Aber das ist natürlich nicht einfach zu erklären, man kann es nicht auf Spruchbänder schreiben.

Um noch einmal auf unsere Frage: Was tun? zurückzukommen: Muß nicht auch sabotiert werden, und sei es in der Art, daß die Nichtinformation in diesem Krieg sabotiert wird? Wenn die Zensur der US-Medien das Zeigen von Bildern der Opfer verhindert, würde dann eine radikale Kommunikationsstrategie nicht auch darin bestehen, alles zu tun, um dieses Tabu zu brechen?

Natürlich. Man muß die Bilder zeigen, die uns nicht gezeigt werden. Aber vor allem muß jetzt interpretiert werden, beobachtet. Das ist subversiv. Man muß die Zeit zurückerobern, also die Information. Im Gegensatz zu dem, was uns gesagt wird, ist Information in Echtzeit keine wirkliche Information, sondern eine Aktion — wie eine Ohrfeige.

Im Zweiten Weltkrieg hatten wir die Tele-Audition mit Radio London: de Gaulles Appell als ausgestrahlte Aufzeichnung. In Vietnam dann die Tele-Vision. Die US-Zuschauer sahen den Krieg, aber als zeitverschobene Aufzeichnung. Und heute? Tele-Vision in Echtzeit, also Tele-Aktion. Bei einem Ereignis in Echtzeit dabeizusein, und sei es in Form von Bildern, heißt: man wird Tele-Akteur. Man wird vom Ereignis ergriffen, ohne es beurteilen zu können. Eine Ohrfeige! Das ist ein Krieg ohne Information, und wir alle sitzen in der Zielscheibe.

Sind Journalisten zwangsläufig Kollaborateure?

Ihr Journalisten steht an vorderster Front. Ihr seid Soldaten, ob Ihr nun für den Frieden seid oder nicht. Die Medien sind vollkommen abhängig von diesen „US Pool Video“ und der CNN. Es gibt keine Bilder außerhalb dieses Pools. Die französischen Medien haben kein Recht, andere Bilder zu verbreiten. Eine Desertation in diesem Krieg bestünde für die Journalisten-Soldaten darin, den Einsatz der Kommunikationswaffen zu denunzieren. Schreibt auf die erste Seite der taz: Nieder mit dem „US Pool Video!“

Das Gespräch führten Thierry

Chervel und Alexander Smoltczyk