Reformkräfte zeigen Distanz zu Gorbatschow

■ Während einer riesigen Demonstration in Moskau wird erstmals die Absetzung Gorbatschows gefordert / Bewegung „Demokratisches Rußland“ erklärt sich zur Oppositionspartei / Bekannte Wirtschaftsreformer verlassen die Regierung

Moskau/Riga (ap/afp/taz) — Langsam formieren sich die demokratischen Kräfte in Moskau und gehen in direkte Opposition zur Führung unter Michail Gorbatschow. Die Bewegung „Demokratisches Rußland“ — ein Zusammenschluß demokratischer Organisationen, die auch in vielen Parlamenten aller Ebenen vertreten ist — hat sich am Sonntag zu einer politischen Partei erklärt. Vor den über 300.000 Menschen, die in Moskau gegen Gorbatschow, seine Politik in den baltischen Ländern und für die Demokratie demonstrierten, erklärten die Initiatoren, daß sie zukünftig als Oppositionspartei gegen die KPdSU auftreten werden. Gleichzeitig haben sich wichtige Personen, die bisher Stützen der Reformpolitik waren und die hinter Gorbatschow standen, aus dem Machtzentrum zurückgezogen. Unter ihnen sind so prominente Namen wie die der Wirtschaftsfachleute Leonid Abalkin, Nikolai Petrakow, Jewgeni Primakow, der Berater für die Politik im Golf oder auch der stellvertretende Ministerpräsident Stepan Sitarian. Nach Schewardnadse, dem Außenminister, hatten sich schon vorher Alexander Jakowlew und der Wirtschaftsexperte Stanislaw Schatalin von Gorbatschow zurückgezogen. Auch in den baltischen Ländern wächst der Widerstand: Zu einer machtvollen Kundgebung von mehreren zehntausend Letten wurde bereits am Samstag in Riga die Beisetzung eines Landsmannes, der von Soldaten des sowjetischen Innenministeriums erschossen worden war.

In Moskau zogen die Demonstranten in zwei riesigen Kolonnen, teilweise in 50er-Reihen, zum Manesch-Platz in der Nähe des Kreml. Zur Kundgebung hatten die Reformbewegung Demokratisches Rußland sowie radikale und liberale Abgeordnete des sowjetischen Parlaments aufgerufen. Die Demonstranten führten litauische Fahnen und Transparente mit sich, auf denen Gorbatschow und die Militärführung wegen des Massakers in Vilnius (Wilna), bei dem vor rund einer Woche 14 Menschen umkamen, verurteilt wurden. Der Historiker Juri Afanassiew, ein führendes Mitglied der Reformbewegung, erklärte, diese Kundgebung betone „unser entschiedenes ,Nein‘ zum reaktionären Kurs Gorbatschows“. Der Präsident wurde in Sprechchören zum Rücktritt aufgerufen und auf einem Transparent in eine Reihe mit dem irakischen Staatschef Saddam Hussein gestellt: „Friedensnobelpreis: 1990 Gorbatschow, 1991 Hussein?“ In einer Botschaft an die Demonstranten warf der russische Präsident Boris Jelzin Gorbatschow vor, sich auf die Seite der Armee und gegen die eigene Bevölkerung gestellt zu haben.

Am Tag zuvor hatten einige tausend Rechtsradikale zusammen mit orthodoxen Parteikommunisten am Gorki-Park unter umgekehrten Vorzeichen demonstriert. Sie bekämpfen die Unabhängigkeitsbestrebungen in Litauen ebenso wie den Zionismus und den russischen Parlamentspräsidenten Boris Jelzin. Die Reformpolitik und die Pornographie haben ihrer Meinung nach Rußland in den Abgrund gestürzt.

In Riga nahmen am Samstag Zehntausende an den Beisetzungsfeierlichkeiten für den 39jährigen Robert Murnieks teil, der am Mittwoch von Soldaten erschossen worden war. Durch die Straßen der Stadt zog ein etwa vier Kilometer langer Trauerzug. Zuvor war in der St.-Albert-Kirche ein dreistündiger Gottesdienst abgehalten worden. „Er ist ein Märtyrer für die Unabhängigkeit Lettlands“, sagte ein Teilnehmer.

Für Verwirrung sorgte am Wochenende ein Bericht über einen angeblichen Putsch in Lettland wie auch Schüsse auf Milizionäre, die das Haus des lettischen Verlags bewachten. 'Tass‘ hatte am Samstag gemeldet, das moskautreue „All- Lettische Komitee der gesellschaftlichen Rettung“ habe die Macht übernommen. Das Komitee habe die Regierung und das Parlament Lettlands für abgesetzt erklärt. Janis Krumins, ein Mitarbeiter des lettischen Präsidenten Anatoljs Gorbunovs, wies den Bericht aber zurück. „Es hat kein Putsch stattgefunden“, sagte er. Die 'Tass‘-Meldung gehöre zu der allgemeinen Desinformationskampagne der sowjetischen Führung.

Rücktrittswelle

Nach dem Urheber des 500-Tage- Plans zur Einführung der Marktwirtschaft, Stanislaw Schatalin, ist nun auch der Wirtschaftswissenschaftler Nikolai Petrakow aus Gorbatschows Beraterstab ausgetreten. Zur Begründung gab er an, es sei ihm nicht mehr möglich gewesen, seine Pläne zum Umbau der Wirtschaft zu vollenden. Nach Angaben der Nachrichtenagentur 'Interfax‘ werden auch Jewgeni Primakow, Juri Ossipijan, Leonid Abalkin sowie Stepan Sitarian künftig keine offiziellen Ämter mehr bekleiden. Es ist das erste Mal, daß 'Interfax‘ am Samstag auch das Ausscheiden Primakows bekanntgab, der im inzwischen aufgelösten Präsidialrat außenpolitischer Berater sowie Gorbatschows Sondergesandter im Golfkonflikt war. Zeitweise wurde er sogar als Nachfolger Schewardnadses gehandelt.

Jakowlew sowie der stellvertretende Leiter der Akademie der Wissenschaften, Ossipijan, gehörten ebenfalls dem Präsidialrat an, während Leonid Abalkin Erster Stellvertretender Ministerpräsident — zuständig für die Wirtschaftsreformen — und Sitarian stellvertretender Ministerpräsident war. Aus den jüngsten Ernennungen der Nachfolger lasse sich schließen, daß sich Gorbatschow in Zukunft stärker auf „Technokraten aus dem militär-industriellen Komplex“ stützen wolle, schrieb 'Interfax‘ weiter. Petrakow beklagte sich am Samstag in einem Interview der Jugendzeitung 'Komsomolskaja Prawda‘, er habe keinen Einfluß mehr auf die Ereignisse gehabt, habe mit seinen Vorschlägen kein Gehör mehr gefunden. Seinen Entschluß habe er wegen der wirtschaftlichen Differenzen gefaßt, sein persönliches Verhältnis zu Gorbatschow sei weiterhin „gut und warm“. Petrakow zweifelte daran, daß das neue Kabinett unter dem ehemaligen Finanzminister Walentin Pawlow den Weg zur Marktwirtschaft fortsetzen wird. Nach Angaben Petrakows hatte er seinen Rücktritt am Donnerstag eingereicht, einen Tag nach der Veröffentlichung einer scharfen Kritik an den blutigen Ereignissen in Litauen in der Wochenzeitung 'Moskau News‘, deren Mitunterzeichner er gewesen war. er