Türkische Bevölkerung aufs höchste alarmiert

Nach der Freigabe türkischer Flughäfen für Angriffe der US-Bomber auf den Irak erwartet man jeden Tag einen irakischen Gegenangriff/ Militär wehrt sich gegen Kriegseintritt  ■ Aus Istanbul Ömer Erzeren

In den Städten Cizre, Silopi und Sirnak brach Panik aus. Die Fenster mehrerer Gebäude zerbrachen. „Der Irak ist zum Angriff übergegangen, die Raketen kommen“, riefen die flüchtenden Menschen. Doch der Grund der klirrenden Fensterscheiben waren keine irakischen Raketen, sondern vom türkischen Luftwaffenstützpunkt Incirlik gestartete US-Bomber, die Ziele im Nordirak bombardierten. Nur einmal explodierte eine Bombe auf türkischem Territorium, am Sonntag um 15.15 Uhr. Sie fiel auf das Cudi-Massiv, 25 Kilometer von Cizre entfernt. Aufgrund einer „technischen Störung“ hatte ein türkisches Kriegsflugzeug auf einem „Übungsflug die Bombe verloren“. So die Erklärung des türkischen Generalstabes.

Seit Donnerstag nacht bombardieren US-Kriegsflugzeuge vom Stützpunkt Incirlik aus Ziele im Nordirak, während die Bomber der mobilen Nato-Einsatztruppe — unter ihnen die Alphajets der Bundeswehr — zu „Übungsflügen“ entlang der irakisch-türkischen Grenze unterwegs sind. Seit Donnerstag nacht hat es von Incirlik, einem der größten Luftwaffenstützpunkte des Nahen Ostens, rund 400 Starts Richtung Irak gegeben. Die Öffnung des syrischen Luftraums hat der Kriegsmaschinerie ihre Arbeit erleichtert. Zwischen dem saudischen Dahran und dem türkischen Incirlik scheint eine Art Luftbrücke zu herrschen; in Incirlik landen mehr Flugzeuge, als gestartet sind. Seit zwei Tagen hält sich das vom Außenministerium dementierte Gerücht, daß auch israelische Kampfflugzeuge in Incirlik stationiert wurden. Türkischen Presseberichten zufolge bereitet sich auch die Luftwaffenbasis Batman auf Einsätze im Irak vor. Türkische Flugzeuge hatten in der Nacht zum Samstag vom Luftwaffenstützpunkt Batman aus Aufklärungsflüge unternommen. Formationen zu zehn Flugzeugen starteten zu mehrstündigen Patrouillen, war aus zuverlässigen Quellen in der Nähe des Luftwaffenstützpunkts zu erfahren. Unklar blieb jedoch, ob auch ausländische Streitkräfte an diesen Flügen beteiligt waren und ob sich die Flüge auf den türkischen Luftraum beschränkten. Der Zugang zum Militärstützpunkt Batman wurde von der türkischen Polizei kontrolliert.

Die Fluchtwelle aus dem Südosten der Türkei — den kurdischen Gebieten — Richtung Westen rollt weiter. Diyarbakir ist ausgestorben. Die Hälfte der Einwohner der Millionenmetropole Adana — in unmittelbarer Nähe des Luftwaffenstützpunktes Incirlik — hat die Stadt verlassen. Die Läden und Restaurants sind geschlossen. Über Zivilschutzmaßnahmen erfährt die kurdische Bevölkerung, die im unmittelbaren Einzugsbereich irakischer Raketen lebt, nichts. „Woher soll ich denn so viele Gasmasken kriegen. Die ich hatte, habe ich an höhere Beamte ausgeteilt. Ich habe gerade einen Luftschutzbunker für 5.000 Mann“, sagt der Gouverneur Cengiz Bulut. Diyarbakir hat mehrere hunderttausend Einwohner. Der Generaldirektor für Zivilschutz in der Türkei verweist darauf, daß der staatliche Rüstungsbetrieb MKE nur 600 Gasmasken pro Tag produziert. Der Zivilschutzdirektor von Adana, Hüseyin Ünal, spottet über die erregte Bevölkerung: „Was will die Bevölkerung mit den Masken. Die Ärzte wollen auch Masken. Lächerlich, daß ein Arzt mit Maske einen Patienten ohne Maske behandelt.“

Die Grenzregion wurde am Sonntag zum militärischen Sperrgebiet erklärt. Nach Angaben des Ausnahmerechtsgouverneurs Hayri Kozakcioglu sind seit Kriegsausbruch 350 Irakis in die Türkei geflüchtet, unter ihnen 11 Soldaten. 2 flüchtende irakische Soldaten wurden fälschlicherweise als kurdische „Terroristen“ erschossen. Der Gouverneur von Hakkari frohlockt, daß keine große Fluchtwelle aus dem Irak einsetzen wird: „Hier liegt 50 cm Schnee, 30 Kilometer sind menschenleer. Die Flüchtlinge schaffen es nicht bis hierher. Bei dem Schnee kann man pro Tag gerade 2 Stunden laufen.“

Mit der Öffnung des Luftwaffenstützpunktes Incirlik für die US- Bomber hat der türkische Staatspräsident Özal es geschafft, eine zweite Front gegen den Irak zu eröffnen. „Nach dem Krieg wird die Türkei größer und stäker dastehen“, hatte er bereits zuvor angekündigt. Die Kriegslüsternheit des Staatspräsidenten scheint grenzenlos. „Falls es nach mir alleine ginge, hätte ich Soldaten in den Golf geschickt. Man lernt, wie das Kriegführen organisiert wird. So eine Gelegenheit gibt es alle 100 Jahre“, sagte er im Interview mit dem türkischen Programm „Hodri Meydan“. Kurz vor Beginn des Programms hatte ihn ein Journalist gefragt, ob er nicht fürchte, daß Saddam Hussein Raketen in die Türkei schickt. „Es sind Angsthasen unter euch“, lautete die knappe Antwort Özals. Während Özal monatelang Beteuerungen abgab, daß nie und nimmer von türkischen Stützpunkten aus Angriffe auf den Irak gestartet werden, pokerte er klammheimlich mit dem Krieg. Noch vor Ausbruch des Krieges mußten 3 Personen wegen Özals Haltung ihren Sessel räumen: Der Außenminister, der Verteidigungsminister und der Generalstabschef. „Ich brauche Generäle, die Krieg führen“, soll Özal zu Generalstabschef Necip Torumtay gesagt haben, der sich gegen ein Engagement der Türkei im Irak ausgesprochen hatte und im Dezember zurücktrat. In Kreisen des türkischen Generalstabes herrscht Beunruhigung über den Alleingang Özals. Sowohl bei der Anforderung der mobilen Nato-Einsatztruppe als auch bei der Starterlaubnis für US-Bomber von Incirlik wurden die Militärs übergangen.

„Özal ist wie der Pilot eines B-52-Bombers. Wenn er könnte, würde er selbst ins Flugzeug steigen und den Irak bombardieren“, monierte der stellvertretende Vorsitzende der konservativen „Partei des rechten Weges“, Hüsamettin Cindoruk. Erdal Inönü, Vorsitzender der „Sozialdemokratischen Volkspartei“, hat die Nase voll: „Wir möchten nicht von einem ausländischen Generalstabschef erfahren, ob die Türkei im Krieg ist oder nicht.“

Obwohl seit Donnerstag die US- Bomber von Incirlik starten, wird das türkische Parlament und die Öffentlichkeit im Dunkeln gelassen. Parlamentsdebatten werden nicht anberaumt. Ministerpräsident Yildirim Akbulut spricht nur von einer „umfassenden Nutzung der Stützpunkte“. Das türkische Fernsehen, das seit Beginn des Krieges CNN in Simultanübersetzung sendet, schaltete ab, als CNN über startende US- Flugzeuge in Incirlik und die Panik im Südosten der Türkei berichtete. „Selbst in den schlimmsten Diktaturen wird nicht verheimlicht, ob ein Land im Krieg ist oder nicht“, kommentiert der sozialdemokratische Ex-Premier Bülent Ecevit die Haltung der Regierung.